Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Conservative Gesinnung der Stände. 369 
Eifer; die germanischen Freiheitsgedanken, denen Stein's Städteordnung 
entsprungen war, wurzelten doch sehr tief in diesem Boden. Und wie 
überraschend schnell hatte dieser Staat sein Volk für seinen Dienst er— 
zogen! Gegen die allgemeine Wehrpflicht, die noch vor zehn Jahren so 
leidenschaftlichen Unwillen erregt, erhob sich jetzt auf sämmtlichen Land— 
tagen keine einzige Stimme mehr; ja die Stände von Brandenburg und 
Posen baten den König sogar, er möge die Juden, zu ihrer Besserung, 
womöglich alle durch die Schule des Heeres gehen lassen. 
Nur in Posen wurde die Eintracht durch nationale Feindschaft gestört, 
und am Rhein führte der Gegensatz der alten und der neuen Gesellschaft, 
der auch in den anderen Provinzen, doch minder gehässig, hervortrat, schon 
zu bedenklichen Kämpfen. Die am grünen Tisch erklügelte ständische 
Gliederung erschien nirgends so ungerecht, wie in den ganz bürgerlichen, 
modernen Lebensverhältnissen des Rheinlandes. Man berechnete, daß der 
Stand der Ritterschaft nur etwa vier Procent des Bodens der Provinz 
besaß; mehrere der größten Grundbesitzer sahen sich von den Wahlen aus— 
geschlossen oder sie mußten im Stande der Städte stimmen, wenn sie, 
wie es hier häufig vorkam, in der Stadt wohnten und ihre im Lande 
zerstreuten Güter verpachtet hatten. Der Kastengeist des rheinischen Adels 
verstärkte noch die Unzufriedenheit. Diese Domherrengeschlechter trugen 
jetzt, da die Krone ihren Standeswünschen so weit entgegenkam, wieder 
eine dynastische Gesinnung zur Schau, welche freilich sofort verschwand, 
als der Staat nachher mit der Kirche in Streit gerieth; sie sprachen 
herausfordernd von ihrem Berufe, den Thron gegen die Revolution zu 
beschützen, und verschworen sich untereinander, nur stiftsfähige Edelleute 
in den Landtag zu wählen. Begreiflich also, daß manche bürgerliche Guts— 
besitzer versuchten, dem Gesetze zuwider, in die Ritterschaft einzudringen. 
Gewandte Juristen, wie der vielgeschäftige Generaladvocat v. Sandt, liehen 
ihnen ihre Federn, und schon während der Wahlen entbrannte wegen 
der Vorrechte des Adels ein heftiger Streit, der dann im Landtage von 
Neuem aufflammte. — 
Alles in Allem war der Geist der preußischen Provinziallandtage 
grundverschieden von der Gesinnung der süddeutschen Kammern. Der 
Gegensatz von Nord und Süd erschien sogar noch schroffer als er war, 
weil das süddeutsche Zweikammersystem dem Einfluß des Adels ungleich 
engere Schranken setzte als die ständische Gliederung der preußischen Stände. 
Auch im Süden besaß die Aristokratie, dem Rechte nach, die volle Hälfte 
der Macht des Landtags; aber sie tagte für sich in ihren Adelskammern 
und durfte den Beschlüssen des anderen Hauses, die mit der ganzen Wucht 
des Volkswillens auftraten, doch nur in seltenen Fällen zu widerstehen 
wagen. In Preußen hingegen konnte der Adel durch Stimmenzahl und 
Einfluß die Landtage unmittelbar beherrschen. Einen großen Vorzug hatte 
das preußische Ständewesen vor den Landtagen Süddeutschlands voraus: 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. III. 24
	        
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