Der Berliner Naturforschertag. 433
Gleichstrebenden in einen anregenden Gedankenaustausch zu treten. Auch
einen nationalen Zweck hatte Oken im Auge, als er diese Versammlungen
nach dem Vorbilde der Schweizer ins Leben rief. Mochten einzelne der
Theilnehmer im Bewußtsein der idealen Größe des Vaterlandes sich über
das politische Elend behaglich trösten, den Meisten wuchs doch der natio—
nale Stolz und die Sehnsucht nach festerer Verbindung mit den Volks-
genossen. Gleiche Empfindungen erweckte das damals zuerst in Stuttgart
gefeierte, nachher oft wiederholte Schillerfest und die Säcularfeier zu Ehren
Albrecht Dürer's, die in vielen deutschen Städten mit Sang und Klang
und begeisterten patriotischen Reden abgehalten wurde.
Noch glänzender verlief gleich darauf der Berliner Naturforschertag.
An sechshundert Theilnehmer hatten sich eingefunden. Humboldt selbst
machte den Wirth und sagte in seiner classischen Eröffnungsrede: Deutsch—
land offenbare sich hier gleichsam in seiner geistigen Einheit. Er zwang
durch sein Beispiel den Hof und die amtliche Welt, auch ihrerseits den
Gelehrten eine Achtung zu erweisen, die ihnen in Paris und London längst
fraglos gewährt wurde. Wie staunten die Berliner, als bei dem großen
Bankett die königlichen Prinzen sich unter die Professoren mischten und der
Demagogenrichter Kamptz mit dem erschrecklichen Verschwörer Oken Arm
in Arm zur Tafel schritt; der König selber freilich sah nur schüchtern aus
seiner Loge auf das ungewohnte Treiben hernieder. Alles drängte sich
huldigend um den Fürsten der Naturforschung; und wenngleich viel mo-
dische Eitelkeit mit unterlief bei allen den Adressen und Ehrengeschenken,
die dem Gefeierten gespendet wurden: es blieb doch ein dauernder Gewinn,
daß er der Wissenschaft das Bürgerrecht eroberte in der vornehmen Ge-
sellschaft, daß die zanksüchtige Hauptstadt nun endlich eine anerkannte
Größe besaß, die Alle gelten ließen, zu der Alle emporblickten. Erst durch
Humboldt und die versöhnende Macht seines Genies wurde der gute Ton
großstädtischer Duldsamkeit in dem zerfahrenen deutschen Leben heimisch.
Draußen im Reiche verlautete freilich von dem Glanze des Ber-
liner geistigen Lebens und von den Verdiensten der preußischen Verwal-
tung weit weniger als von den albernen Sünden der Demagogenjagd,
welche den Ruhm der hohenzollernschen Krone befleckten. Nirgendwo sonst
in Deutschland wurde die politische Verfolgung so unerbittlich betrieben.
Es lag im Wesen dieses starkknochigen Staates, daß hier alle deutschen
Tugenden kraftvoll und mächtig, aber auch alle deutschen Sünden schlecht-
hin ruchlos zu Tage traten. Fünf Jahre lang durfte eine Rotte von
Verworfenen und Verblendeten das kleinliche Mißtrauen, das dem bureau-
kratischen Absolutismus überall anhaftet, für ihre unheimlichen Zwecke
ausbeuten und, während sonst überall das Recht unverbrüchlich gehand-
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. III. 28