528 III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
Schuldencommission, welche als einziger Ueberrest der alten Verfassung
noch fortbestand, war völlig machtlos; sie vermochte nicht einmal zu ver—
hindern, daß die Steuern gelegentlich eigenmächtig erhöht wurden. Ein—
fluß hatte Niemand, nur in Geldsachen wurde Amschel Rothschild's be—
währter Rath gern berücksichtigt; selbst Hassenpflug's Macht reichte nur
so weit, daß er seinem strebsamen Sohne Hans Daniel die Anfänge eines
wechselreichen Dienstlebens erleichtern konnte. Jedes Hessen Wohl und
Wehe hing allein ab von den unberechenbaren Tücken des greisen Fürsten,
der jetzt kränkelnd immer grilliger und auffahrender wurde. Als er seinem
Lande die Karlsbader Beschlüsse mittheilte, fügte er die grimmige Drohung
hinzu: „Ich erkläre hiermit denjenigen meiner Unterthanen, welcher der
Theilnahme an jenen aufrührerischen Verbindungen schuldig erklärt werden
sollte, des Namens eines Hessens für unwürdig, mithin für immer aus—
gestoßen aus der Mitte meines biederen Volkes und der bürgerlichen Rechte
in seinem Vaterlande verlustig.“)
Das Volk blieb bei dem stillen Begräbniß seiner alten Verfassung
über Erwarten ruhig, obgleich die Stände in einer gedruckten Denkschrift
über ihre geheimen Verhandlungen Bericht erstatteten. Die Stadt Cassel
sprach dem scheidenden Landtage ihren Dank aus, und als der Kurfürst
im Jahre 1817 eigenmächtig ein Hausgesetz erließ, beabsichtigten einige
Landstände eine Rechtsverwahrung bei den deutschen Großmächten einzu-
legen.*), Doch der Plan kam nicht zur Ausführung. Man hatte zu
hoffen verlernt, und wo blieb auch die Zeit für politische Gedanken in der
wirthschaftlichen Noth dieses verkümmerten und verwahrlosten Landes?
Wenn der Wanderer zuerst die Wälder und die rothen Felsen des Werra-
oder des Fuldathals erblickte mit dem glitzernden Fluß dazwischen, oder
die malerischen Basaltkuppen an der Eder und Schwalm, dann meinte
er hier den stillen Frieden zu finden, der den Zauber aller dieser mittel-
deutschen Hügellandschaften ausmacht. In den ärmlichen Dörfern aber
überraschte ihn die seltsame Ernsthaftigkeit der Menschen; zumal in den
vergrämten Gesichtern der alten Bauernfrauen, in den strengen großen
Augen, die aus den schwarzen Hauben hervorblickten, lag oft ein tragischer
Zug, der von einer langen Leidensgeschichte erzählte.
An Helden der Kunst und Wissenschaft war dieser Stamm nie sehr
reich, seine Stärke lag von jeher in der Tapferkeit und dem unbeugsamen
Rechtsgefühl; kam freilich einmal die Kraft des Genies empor, wie in dem
Hause der Grimm, dann zeigte sich auch die unverstümmelte Großheit des
ursprünglichen germanischen Wesens. So still wie jetzt war das geistige
Leben des Landes doch kaum gewesen. Die Universität Marburg erwarb
sich damals, da sie rasch nach einander Savigny, Creuzer, Tiedemann ver-
*) Ansprache des Kurfürsten an die Hessen, 30. Sept. 1819.
**) Hänlein's Bericht, 17. März 1817.