Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

Die Hegelianer. 721 
mißverstanden werden. Hegel selber verdiente zwar keineswegs den Vor— 
wurf knechtischer Gesinnung, den ihm seine Neider zuschleuderten; er ging 
in seiner Staatslehre über die Wirklichkeit der preußischen Zustände sehr 
weit hinaus, er forderte Kammern und Schwurgerichte, gewährte dem 
Monarchen nur das Recht, den Punkt aufs i zu setzen. Doch er war 
eine conservative Natur. In seinen letzten Jahren schloß er sich eng an 
die Regierung an und benutzte unbedenklich. die Gunst Altenstein's und 
Johannes Schulze's, um seine wissenschaftlichen Gegner zu beseitigen; seine 
Berliner Jahrbücher hätte er am liebsten, gleich dem Journal des savans, 
zu einem Staatsunternehmen umgestaltet. Wenn er das Wirkliche ver— 
nünftig nannte, so wollte er sicherlich nicht den Stillstand preisen, sondern 
eine besonnene Staatskunst, die ihre Reformen aus dem Gegebenen heraus 
gestaltete. 
Aber schon erhoben sich — voran der Jurist Göschel — einige über— 
eifrige, hochconservative Schüler, welche im Namen Hegel's Alles, was in 
Staat und Kirche augenblicklich bestand, für vernünftig erklärten. Und 
zugleich ward offenbar, daß jenes vieldeutige Wort auch im Sinne des 
wüsten Radicalismus mißbraucht werden konnte. Wenn nur das Ver— 
nünftige wirklich war, so durfte ein unreifer Kopf sich wohl berechtigt 
glauben, die Welt nach seiner Vernunft umzugestalten, das nur scheinbar 
Wirkliche durch die Wahrheit der Philosophie kurzerhand zu verdrängen. 
Und dieser dreiste Schluß — unzweifelhaft das genaue Gegentheil der 
Meinung Hegel's — wurde in der That schon von einzelnen Heißspornen 
gewagt; das junge Volk glaubte den Meister besser zu verstehen, als er 
sich selber verstand. 
Die ersten Anfänge dieses junghegelschen Radicalismus ließen sich 
bereits erkennen, als Ed. Gans gegen die historische Rechtsschule zu Felde 
zog — ein bewegliches jüdisches Talent, mehr scharfsinnig als geistvoll, 
wohlbewandert in jener Kunst der Reproduction, welche auf dem Katheder 
so leicht Erfolge erzielt. Gans durchschaute die Schwächen der Schüler 
Savigny's, die sich nur zu oft in ideenlose Mikrologie verloren, und 
erneuerte, ungleich geschickter als Rotteck, den alten sinnlosen Kampf des 
Vernunftrechts wider das historische Recht, obgleich die Grundgedanken 
der Hegel'schen Geschichtsphilosophie den Ideen der historischen Rechtsschule 
in Wahrheit sehr nahe standen. Der unerquickliche Streit erinnerte stark 
an die leidigen Mißverständnisse zwischen Kant und Herder; er hatte nur 
die eine gute Folge, daß Gans sich sammelte und in seinem „Erbrecht“ 
einen Versuch vergleichender Rechtsgeschichte unternahm, der die Lehre 
Savigny's glücklich ergänzte. Die Schwarmgeister der Hegel'schen Schule 
aber hatten nunmehr gefunden, was jeder werdenden Partei unentbehrlich 
ist: einen gemeinsamen Feind. Kampf gegen die Historischen — hieß 
jetzt die Losung. Unter diesem Banner sammelte sich eine Schaar radi- 
caler Köpfe, welche, weit hinausschreitend über Gans'“ liberale Ansichten, 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. III. 46
	        
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