Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Dritter Teil. Bis zur Juli-Revolution. (26)

736 III. 10. Preußen und die orientalische Frage. 
ohne den lang genährten Abscheu gegen den Halbmond schwerlich erfolgt 
wäre. Der Tag von Navarin begründete Griechenlands Unabhängigkeit, 
er begründete zugleich Rußlands Herrschaft auf dem Schwarzen Meere; 
der Sultan besaß fortan keine Flotte mehr, die dem Czaren den Marsch 
nach dem Balkan erschweren konnte. Die Russen fühlten auch, daß sie 
in Wahrheit diesen Sieg erfochten hatten. In der ersten Freude schrieb 
Nesselrode dem Gesandten in Wien: „was wird unser Freund Metternich 
sagen zu diesem Triumphe der Gewalt über die Vorurtheile der Grund- 
sätze?!" Metternich fand kaum Worte genug, um diese empörende Ver- 
höhnung des Völkerrechts zu brandmarken. Sein Kaiser sprach von 
Meuchelmord, von Entweihung des heiligen Wortes: Mediation;?) er 
fürchtete schon, die Liberalen hätten vielleicht den Krieg, der jetzt drohe, 
angezettelt, um inzwischen ctwa in Frankreich loszubrechen. Auch in Eng- 
land herrschte, nachdem der Jubel über den Sieg der nationalen Lieblings- 
waffe verhallt war, allgemeine Bestürzung. Das alte Mißtrauen gegen 
Rußland erwachte wieder. Im Einverständniß mit der Stimmung der 
Nation bildete Wellington ein Tory-Cabinet, das sich dem Wiener Hofe zu 
nähern begann, und schon im Januar 1822 durfte König Georg in seiner 
Thronrede die Schlacht von Navarin ein unwillkommenes Ereigniß (unto- 
Ward event) nennen. 
Nach Allem, was geschehen, mußten die drei Mächte sofort weiter gehen 
und nöthigenfalls durch einen zweiten Schlag die Pforte zum Frieden mit 
den Griechen zwingen; so ließen sich Rußlands Kriegspläne vielleicht noch 
vereiteln. Aber der Einmuth fehlte, da England immer bedenklicher wurde. 
Die Vertreter der Westmächte erneuerten in Konstantinopel ihre Friedens- 
anträge, kräftig unterstützt von dem preußischen Gesandten, und als sie eine 
schnöde Antwort empfingen, reisten sie unverrichteter Dinge ab. Nun brach 
der Zorn des tödlich beleidigten Sultans, der alte Hochmuth des Islam 
furchtbar aus. Die Christen der Hauptstadt wurden verhöhnt, mißhandelt, 
ausgewiesen; ein Ferman des Padischah verkündete den Gläubigen: „das Hei- 
denthum bildet nur eine Nation,“ überschüttete die europäischen Mächte mit 
Schmähungen, insbesondere Rußland, den Erzfeind des Reichs Muhamed's. 
Auf die Vorstellungen des preußischen Gesandten erwiderte der Reis Effendi 
Pertew hochmüthig: jetzt sei es Zeit auch den Vertrag von Akkerman abzu- 
schütteln. Durch diese Beleidigungen erhielt der Czar den längst gesuchten 
Vorwand zum Kriege. Die Westmächte konnten ihm nicht entgegentreten, denn 
sie selbst waren durch die überlegene russische Diplomatie gebunden. Nach 
dem Londoner Vertrage, der noch immer bestand, durften die drei Mächte 
nur in der griechischen Sache nicht einseitig vorgehen; der Krieg aber, der 
jetzt hereinbrach, erschien als ein Kampf für Rußlands gekränkte Ehre. — 
  
*) Maltzahn's Berichte, 15. Nov., 11. Dec. 1827. 
 
	        
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