132 IV. 2. Die konstitutionelle Bewegung in Norddeutschland.
entscheidend“ — und warf sofort die Frage auf: „Wie muß eine Ver—
fassung überhaupt beschaffen sein, um den durch Vernunft und Geschichte
gleichmäßig begründeten Anforderungen der Zeit zu entsprechen?“ In
einem regelrechten Kathedervortrage zählte er sodann, mit 1 und 2, mit
a und b, alle die notwendigen „Garantien des verfassungsmäßigen
Volkslebens“ her. Da prangten wie die aufgespießten Käfer einer In—
sektensammlung nebeneinander: zuerst die Volkserziehung, die sittliche
und die politische — denn „die wahre Volksaufklärung gilt mit Recht
ebenso für eine Hauptstütze des monarchischen Freistaates, wie die Un-
wissenheit und Stupidität des Volks für eine Grundlage der Despotie“
— sodann „die Sprech= und Preßfreiheit, d. i. die Publizität“, ferner
eine unabhängige Gemeindeverfassung und eine kräftige Volksvertretung,
endlich „die Nationalbewaffnung der Landwehr“ — denn „der Geist einer
Soldateska ist schon an sich von dem Geiste des Volks völlig verschieden“
und muß, wenn das stehende Heer nicht aufgehoben werden kann, min-
destens durch kurze Dienstzeit und häufige Beurlaubungen gemildert werden.
Nach diesen Grundsätzen wollte Jordan die Vorschläge der Regierung be-
urteilt sehen: „richtige Prinzipien sind auch hier wie überall die Haupt-
sache.“
Der wunderliche Vortrag machte auf die Hörer tiefen Eindruck; denn
er verkündete mit ehrlicher Begeisterung, mit einer Zuversicht, als ob ein
Zweifel gar nicht möglich sei, alle die Glaubenssätze des vernunftrecht-
lichen Katechismus, welche den deutschen Liberalen heilig waren, und
hinter den doktrinären Gemeinplätzen verbarg sich ein praktischer, nach
den trüben Erfahrungen der kurhessischen Geschichte nur allzu berechtigter
Gedanke: die Absicht beständiger Verteidigung gegen fürstliche Über-
griffe. Jordan dachte seinen monarchischen Freistaat also einzurichten,
daß die Regierung von den Vorschriften der Verfassung unmöglich ab-
weichen könnte, und da die Landstände allesamt, trotz ihrer unerschütter-
lichen dynastischen Treue, den Argwohn gegen den Kurfürsten teilten,
so wurde der Verfassungsentwurf völlig umgestaltet. Der Marburger
Professor behauptete dabei die unbestrittene Leitung. In seinen Kollegien-
heften standen alle die Paragraphen, welche ein Volk frei und glücklich
machen können, längst säuberlich aufgezeichnet; für jeden Herzenswunsch
der öffentlichen Meinung fand er sofort den vernunftrechtlichen Ausdruck,
und diese Fertigkeit des hastigen Formulierens, die in unerfahrenen Par-
lamenten immer überschätzt wird, verschaffte ihm den Ruf staatsmännischer
Weisheit. So gelangten die Verhandlungen rasch zum Ziele; man wußte,
was man wollte, und für unnütze Redekünste bot dieser Landtag, der noch
geheim tagte, keinen Raum. Schon am 5. Januar 1831 ward die neue
Verfassung vom Kurfürsten unterzeichnet — eines der denkwürdigsten
deutschen Grundgesetze, bedeutsam nicht bloß durch seine stürmischen Schick-
sale, sondern auch durch seinen Inhalt; denn nirgends sonst zeigte sich