Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Der Göttinger Ausstand. 155 
zu wagen. Daß die Hofräte des akademischen Körpers sich mit wenigen 
Ausnahmen grundsätzlich der Politik fernhielten, war weltbekannt; auch 
unter den Studenten bestand nur eine kleine radikale Partei, denn die 
Georgia Augusta galt noch für die vornehmste der deutschen Universitäten, 
die Prinzen und die Grafen saßen in den Hörsälen noch immer wie zu 
Pütters Zeiten auf einer Ehrenbank. In der Bürgerschaft aber hatte sich, 
seit die heruntergekommene Stadt nur noch von den Studenten lebte, jener 
aus Geldgier, Bedientensinn und Durst gemischte Charakter, welcher die 
Bewohner kleiner Badeorke und Universitätsstädte gemeinhin auszeichnet, 
ungewöhnlich stark ausgebildet. Gleichwohl konnte ein Handstreich leicht 
gelingen: denn das Jägerbataillon in der Kaserne zählte nur achtzig Mann 
— dank dem lässigen Beurlaubungssystem, das in allen den kleinen 
Bundesheeren eingerissen war — und der Kommandant sollte nach Lan— 
desbrauch alle Ombrage vermeiden, er durfte seine Mannschaft, die bei 
rechtzeitigem Vorgehen vollauf genügt hätte, nur auf Verlangen der Zivil— 
behörden einschreiten lassen. 
Am 8. Januar stürmten die Advokaten Seidensticker und Eggeling 
mit einer kleinen Schar Verschworener in das alte Rathaus. Der 
verhaßte Polizeikommissar machte sich aus dem Staube, auch die anderen 
Behörden stellten gehorsam ihre Arbeit ein; ein neuer, aus Bürgern, 
Doktoren und Studenten zusammengesetzter Gemeinderat übernahm die 
Herrschaft. Während ein Studentenschneider auf der steinernen Brüstung 
der Rathausstiege drohend seinen Hirschfänger wetzte, schritt der Leiter 
der Bewegqung, der Privatdozent von Rauschenplatt im Schlapphut und 
hohen Kanonenstiefeln auf dem Marktplatze einher — ein beherzter, 
stämmiger kleiner Mann mit schiefgeschlitzten schlauen Augen, dichtem 
Haarwuchs und struppigem, blondem Vollbart; vier Pistolen, ein Schlepp- 
säbel und ein Dolch prangten an seinem Gürtel. Auf den Ruf: „es 
gibt Revolution“ eilten die Studenten mit ihren Schlägern herbei, glück- 
selig über den ungeheuren Ulk. Eine akademische und eine bürgerliche 
Legion wurde gebildet, jeder Wehrmann trug die weiße Bürgerbinde, 
viele auch die lila-grünz-zrote Kokarde der vereinigten Calenberg-Gruben- 
hagenschen Nation. Alles beugte sich den neuen Gewalten. Die Gar- 
nison zog unbelästigt ab, nachdem Rauschenplatt vergeblich versucht hatte, 
den Kommandanten zur gefälligen Ablieferung seiner überzähligen Flinten 
zu bereden. Im akademischen Senat verlangte Dahlmann eine scharfe 
Abmahnung an die Studenten, aber nur der streng konservative Gauß 
fand den Mut, ihm beizustimmen. 
Eine ganze Woche hindurch blieb die Stadt in der Hand des „Ka- 
ters“ — so hieß der kleine Mann mit den großen Stiefeln. Die Tore 
waren verrammelt, die schönen Baumgänge des Walles wurden scharf 
bewacht, weil man die Beamten und Professoren als Geisel zurückhalten 
wollte. Auf dem Marktplatze lagerten die Helden der beiden Legionen
	        
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