Der Göttinger Ausstand. 155
zu wagen. Daß die Hofräte des akademischen Körpers sich mit wenigen
Ausnahmen grundsätzlich der Politik fernhielten, war weltbekannt; auch
unter den Studenten bestand nur eine kleine radikale Partei, denn die
Georgia Augusta galt noch für die vornehmste der deutschen Universitäten,
die Prinzen und die Grafen saßen in den Hörsälen noch immer wie zu
Pütters Zeiten auf einer Ehrenbank. In der Bürgerschaft aber hatte sich,
seit die heruntergekommene Stadt nur noch von den Studenten lebte, jener
aus Geldgier, Bedientensinn und Durst gemischte Charakter, welcher die
Bewohner kleiner Badeorke und Universitätsstädte gemeinhin auszeichnet,
ungewöhnlich stark ausgebildet. Gleichwohl konnte ein Handstreich leicht
gelingen: denn das Jägerbataillon in der Kaserne zählte nur achtzig Mann
— dank dem lässigen Beurlaubungssystem, das in allen den kleinen
Bundesheeren eingerissen war — und der Kommandant sollte nach Lan—
desbrauch alle Ombrage vermeiden, er durfte seine Mannschaft, die bei
rechtzeitigem Vorgehen vollauf genügt hätte, nur auf Verlangen der Zivil—
behörden einschreiten lassen.
Am 8. Januar stürmten die Advokaten Seidensticker und Eggeling
mit einer kleinen Schar Verschworener in das alte Rathaus. Der
verhaßte Polizeikommissar machte sich aus dem Staube, auch die anderen
Behörden stellten gehorsam ihre Arbeit ein; ein neuer, aus Bürgern,
Doktoren und Studenten zusammengesetzter Gemeinderat übernahm die
Herrschaft. Während ein Studentenschneider auf der steinernen Brüstung
der Rathausstiege drohend seinen Hirschfänger wetzte, schritt der Leiter
der Bewegqung, der Privatdozent von Rauschenplatt im Schlapphut und
hohen Kanonenstiefeln auf dem Marktplatze einher — ein beherzter,
stämmiger kleiner Mann mit schiefgeschlitzten schlauen Augen, dichtem
Haarwuchs und struppigem, blondem Vollbart; vier Pistolen, ein Schlepp-
säbel und ein Dolch prangten an seinem Gürtel. Auf den Ruf: „es
gibt Revolution“ eilten die Studenten mit ihren Schlägern herbei, glück-
selig über den ungeheuren Ulk. Eine akademische und eine bürgerliche
Legion wurde gebildet, jeder Wehrmann trug die weiße Bürgerbinde,
viele auch die lila-grünz-zrote Kokarde der vereinigten Calenberg-Gruben-
hagenschen Nation. Alles beugte sich den neuen Gewalten. Die Gar-
nison zog unbelästigt ab, nachdem Rauschenplatt vergeblich versucht hatte,
den Kommandanten zur gefälligen Ablieferung seiner überzähligen Flinten
zu bereden. Im akademischen Senat verlangte Dahlmann eine scharfe
Abmahnung an die Studenten, aber nur der streng konservative Gauß
fand den Mut, ihm beizustimmen.
Eine ganze Woche hindurch blieb die Stadt in der Hand des „Ka-
ters“ — so hieß der kleine Mann mit den großen Stiefeln. Die Tore
waren verrammelt, die schönen Baumgänge des Walles wurden scharf
bewacht, weil man die Beamten und Professoren als Geisel zurückhalten
wollte. Auf dem Marktplatze lagerten die Helden der beiden Legionen