Reichstag. 411
Wahlen selbst und allein, die Wahlprüfungen erfolgen primär durch die Abthei—
lungen des R., eventuell durch die speziell zu bestellende Wahlprüfungskommission
gemäß den Vorschriften der Geschäftsordnung.
III. Die Rechtsverhältnisseder Mitglieder des R. Die Mitglieder des
R. dürfen wegen ihrer Abstimmung oder der in Ausübung ihres parlamentarischen Be—
rufes gethanen Aeußerungen weder strafrechtlich noch disziplinarisch verfolgt werden.
Eine Disziplin wird gegen Mitglieder des R. im Parlament nur nach Maßgabe
der Geschäftsordnung, welche seiner Zeit vom berathenden Parlament des Norddeutschen
Bundes festgestellt und seitdem mit geringen Modifikationen von jedem späteren R.
angenommen wurde, geübt. Diese Disziplinargewalt wird durch den Präsidenten
gehandhabt, Disziplinarmittel sind Ordnungsruf und Entziehung des Wortes: die
sehr viel schärferen Disziplinarmittel des Englischen und Französischen Parlaments-
rechtes sind dem Deutschen unbekannt. Beamte bedürfen zum Eintritt in den R.
keines Urlaubes; als Beamte sind zu betrachten die Staats-, Kommunal= und Kirchen-
beamten der Landeskirchen, ferner die Offiziere; Gehaltsabzug und Stellvertretungs-
kosten gegen Beamte, welche in den R. eingetreten sind, sind als unzulässig zu be-
trachten. Während der Sitzungsperiode kann kein Mitglied des R. ohne dessen
Genehmigung wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Untersuchung gezogen
oder verhaftet werden, außer wenn die Ergreifung auf handhafter That oder im Laufe
des nächstfolgenden Tages geschah. Selbstverständlich bezieht sich diese Immunität
nicht auf rechtskräftig erkannte Strafen (vgl. jedoch hierher Ges. vom 31. Mai
1880, § 2 IR.G.Bl. S. 1171, über die Verlängerung und authentische Erklärung
des Ges. vom 21. Okt. 1878 gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozial-
demokratie). Wegen Schulden oder zum Sicherungsarrest kann ein Mitglied des R.
während der Sitzungsperiode nur verhaftet werden mit Genehmigung des R. Durch
Beschluß des R., dem entsprochen werden muß, kann während der Sitzungsperiode
die Sistirung jedes Strafverfahrens gegen ein Mitglied, sowie jeder Untersuchungs-
und Civil= (nicht Straf-) Haft eines solchen verlangt werden. Die Mitglieder des
R. dürfen als solche keine Besoldung oder Entschädigung beziehen, weder aus
öffentlichen noch aus privaten Mitteln; doch fehlt diesem Verbote der strafrechtliche
Schutz, und auch sonstige Rechtsfolgen sind an dasselbe nicht geknüpft. Wahrheits-
getreue Berichte über Verhandlungen des R. (nicht aber Bruchstücke von solchen)
sind von jeder Verantwortlichkeit frei.
IV. Die Funktionen des R. Was die Kompetenz des R. betrifft, so hat
derselbe zuvörderst das Recht der Autonomie; darin liegt die Befugniß, sein Prä-
sidium zu wählen, die Gültigkeit der Wahlen seiner Mitglieder zu prüfen und
darüber allein zu entscheiden, seine Geschäftsordnung zu normiren. Das Präsidium
besteht aus einem Präsidenten, zwei Vizepräsidenten und acht Schriftführern; der
Präsident übt die Disziplinargewalt über die Mitglieder des R., sowie die Sitzungs-
polizei während der Berathungen, er ernennt ferner die Beamten des R. — Die
Hauptfunktion des R. ist die Theilnahme an der Gesetzgebung. Die Mitwirkung,
welche parlamentarischen Faktoren nach dem monarchischen Staatsrechte, sowie sich
dasselbe in Deutschland entwickelt hat, zukommt, darf nicht dahin charakterisirt
werden, daß die Volksvertretung mit dem Monarchen gemeinsam die Gesetzgebung
ausübt; in diesem Sinne sind die Parlamente nach Deutschem Staatsrecht keines-
wegs „gesetzgebende“ Versammlungen. Vielmehr ist das den beiden genannten
Faktoren zukommende Recht an der Gesetzgebung ein prinzipiell höchst verschiedenes;
bei jedem Gesetze ist zu unterscheiden zwischen Gesetzesinhalt und Gesetzes befehl;
den letzteren, welcher in der Sanktion liegt, giebt im monarchischen Staat nur der
Monarch, er allein ist demnach der Gesetzgeber und ihm steht folglich auch das
negative Recht zu, jedem Gesetzentwurfe die Sanktion zu versagen (Veto)y. Das
Parlament hingegen ist nur betheiligt an der Feststellung des Gesetzesinhaltes,
nicht an der Ertheilung des Gesetzesbefehles. So auch nach Reichsstaatsrecht, indem