Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Der Kampf um die Parlamentsherrschaft. 11 
lichkeiten, die allerdings in die Sinne fielen: in England wie in Frank— 
reich war auf die Zeit der Bürgerkriege die Herrschaft eines genialen 
Tyrannen und dann, gegen den Willen des ruhmreichen Heeres, die 
Herstellung des rechtmäßigen Königshauses gefolgt; hier wie dort ward 
der alten, dem Erlöschen nahen Dynastie unerwartet noch ein Erbe ge— 
boren, hier wie dort stand ein unzufriedener Prinz lauernd neben dem 
Throne. Warum sollte nicht auch Frankreich sich die Freuden einer 
zweiten Revolution gönnen? sie hatte ja, wie Thiers gemütlich bemerkte, 
„nichts zu zerstören außer der Dynastie“! 
Die Erbitterten wollten nicht sehen, daß allein in dem unbestreit— 
baren Erbrechte des königlichen Hauses der Ehrgeiz der Parteien seine 
letzte Schranke, die gesetzliche Freiheit ihre letzte Bürgschaft finden konnte. 
Für das leichtsinnige junge Geschlecht, das in den Schulen der neuen 
Universität herangewachsen war, hatte das Zeitalter der Revolution keine 
Schrecken mehr. Wie verführerisch erschienen die Greuel jener Tage 
in Thiers' gefeiertem Geschichtswerke; selbst in Mignets ruhiger ge— 
haltenem Buche über die Geschichte der Revolution, einem Meisterwerke 
gedrängter, klarer, lebendiger Erzählung, schwieg die Stimme des Ge— 
wissens gänzlich; beide redeten, als ob eine rätselhafte Schicksalsmacht die 
ewigen sittlichen Gesetze des Völkerlebens fünfundzwanzig Jahre hindurch 
für die Franzosen außer Kraft gesetzt hätte. So verloren sich die liberalen 
Parteien in die Traumwelt einer Doktrin, die für unwiderleglich galt, ob- 
gleich sie von Widersprüchen strotzte, die sich monarchisch nannte, obgleich 
sie auf dem republikanischen Gedanken der Volkssouveränität ruhte. Man 
wähnte die Charte zu verteidigen und bestritt der Krone ein Recht, das 
ihr die Charte unzweifelhaft gewährte; man sprach von der Unverantwort— 
lichkeit des Monarchen, von der Regierung seiner allein verantwortlichen 
Räte und behielt dem Volke doch die Befugnis vor, den König zu ent— 
thronen, falls er dem Willen der Kammern sich nicht beugte. 
Dieser Doktrin der rechtmäßigen Revolution trat aber, ebenso leicht— 
fertig und ebenso dünkelhaft, die Doktrin der rechtmäßigen Staatsstreiche 
gegenüber. Auch König Karl steifte sich auf sein natürliches Recht: er wolle, 
so vermaß er sich, lieber Holz schlagen, als seine Krone ebenso tief wie 
die englische erniedrigen lassen. Für den ärgsten Fall hielt sein Polignac 
eine Rechtslehre bereit, die ersichtlich der jakobitischen Königskunst des 
Hauses Stuart nachgebildet war: da die Charte ein freies Geschenk der 
königlichen Gnade sei, so dürfte der Monarch jederzeit seine ursprüngliche 
Vollgewalt wieder an sich nehmen und einzelne Sätze der Verfassung 
beseitigen, um nachher wieder in den Weg des Gesetzes einzulenken; die 
Charte bestimmte ja selbst im Art. 14, daß der König die zur Sicher— 
heit des Staates erforderlichen Verordnungen erlassen solle; und schon 
einmal, im Jahre 1816, war das Wahlgesetz, zur Befriedigung des Lan— 
des, durch eine königliche Ordonnanz einseitig abgeändert worden. Sicher
	        
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