Neutralität Belgiens. 71
Am 20. Januar 1831 einigte sich die Konferenz über die Grundlagen
der Trennung der Niederlande: auf Bülows Antrag wurde die Neutralität
des künftigen belgischen Staates angenommen, der alle Landschaften südlich
der alten holländischen Grenze, mit Ausnahme des deutschen Bundeslandes
Luxemburg, umfassen sollte. Aber während dieser Verhandlungen rückte
plötzlich Talleyrand mit seinen Herzenswünschen heraus: er verlangte für
Frankreich die im Jahre 1815 an die Niederlande abgetretenen Grenz—
striche um Philippeville und Marienburg. Jener wunderlichen Traum—
welt, welche die Franzosen seit ihrer großen Woche umfing, konnte sich
selbst der Nestor der Diplomatie nicht entziehen. Man war an der Seine
so sehr daran gewöhnt, jede Pariser Torheit von der gesamten libe—
ralen Welt Europas nachgesprochen zu sehen, daß man im Ernst glaubte,
auch das Verlangen nach der Rheingrenze werde von allen freien Köpfen
des Weltteils gebilligt. Die besonneneren Franzosen meinten schon einen
Beweis hoher Mäßigung zu geben, wenn sie diese „große Grenze“ für
jetzt noch nicht verlangten, sondern sich zunächst mit der in Paris so—
genannten „kleinen Grenze“ begnügten — mit der Rückforderung jener
schmalen Grenzstreifen, welche der milde zweite Pariser Friede von Frank-
reich abgetrennt hatte. Lord Palmerston aber erkannte sofort, daß keine
der Ostmächte auf eine solche Zumutung eingehen konnte; von allen
übrigen Bevollmächtigten unterstützt, erklärte er sich scharf dawider. Nun-
mehr versuchte Ludwig Philipp durch geheime Sendungen den englischen
Hof für diese kleine Grenze zu gewinnen. Zugleich forderte er die Neu-
tralität für Luxemburg, worauf Preußen nachdrücklich erwiderte: der
Deutsche Bund, dem Luxemburg angehöre, sei zwar nur zur Verteidigung
bestimmt, aber keineswegs neutral.“)
Der König der Niederlande erklärte sich mit den Vorschlägen der Kon-
ferenz einverstanden. Der Brüsseler Kongreß hingegen erließ, verwöhnt
durch die seltene Gunst des Glücks, eine leidenschaftliche Verwahrung und
berief sich zum Schluß auf den großen Grundsatz der Nichteinmischung.
Schon diese Wendung ließ erkennen, daß die Belgier auf französischen
Beistand rechneten, und in der Tat erhob Frankreich plötzlich Bedenken
gegen die Genehmigung der Konferenzbeschlüsse. Währenddem wurden
große Truppenmassen in Lothringen, dicht an der Grenze, angehäuft, und
am 28. Januar meldete der Kommandierende des rheinischen Armeekorps,
General Borstell, er müsse jederzeit einen plötzlichen Einfall in die Mosel-
und Saarlande erwarten. Nach einer Beratung Bernstorffs mit den
höchsten Führern des Heeres befahl der König nunmehr, das rheinische,
das sächsische und einen Teil des westfälischen Armeekorps auf Kriegs-
fuß zu setzen, so daß jetzt volle zwei Drittel des preußischen Heeres zur
*) Bericht des Auswärtigen Amtes an K. Friedrich Wilhelm 15. Februar.
Weisung an Bülow 15. Febr. 1831.