4 V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
stand schon so fest, die Gemeinschaft der Arbeit zwischen den Deutschen
außerhalb Osterreichs erschien schon so unzerreißbar, daß Michel Chevalier
eben jetzt, nach einer Reise durch Deutschland, bewundernd sagte: „In
der europäischen Politik weiß ich nichts Merkwürdigeres als die Wieder—
herstellung der Einheit Deutschlands. Welch ein prächtiges Schauspiel,
das eines großen Volkes, dessen Trümmer sich nähern, das zur Natio—
nalität, das heißt zum Leben, zurückkehrt!“
Der grelle Widerspruch zwischen diesem jungen vollsaftigen wirt—
schaftlichen Leben und den Formen des starren, jeder Verbesserung spotten—
den Bundesrechts mußte die öffentliche Meinung verwirren. Die einen
träumten noch dahin in dem Stillleben eines gedankenlosen Partikularis—
mus, der durch die großen Verhältnisse des neuen nationalen Marktes
schon überwunden war; andere wiederholten noch wie vor zehn Jahren
die Schlagworte des radikalen Weltbürgertums; in den besten Klassen
des Volkes aber erwachte allmählich ein leidenschaftlicher, reizbarer Natio-
nalstolz. Sie ahnten, daß hier eine ungeheuere Volkskraft durch tausend
verfitzte und verschrobene politische Rücksichten künstlich unterbunden war.
Verwegene Ansprüche, wie sie vordem nur vereinzelte Schwärmer gewagt
hatten, wurden zum Zeitungsgespräche. Man begann zu fragen, warum
dieser junge Zollverein nicht, wie einst die Hansa, seine Flagge auf dem
Weltmeere entfalte und durch seine Orlogsschiffe beschütze, warum er nicht
teilnehme an der Eroberung der transatlantischen Welt. Nach allen
entfremdeten Tochterlanden unseres Volkes, bis nach Flensburg, bis nach
Riga und Reval schweiften die verlangenden Blicke der patriotischen
Schriftsteller; und als in diesem wechselreichen Sommer die Rheingrenze
von neuem bedroht schien, da erhob sich mit elementarischer Gewalt ein
Sturm nationalen Zornes, der deutlich bekundete, daß der Geist der Be-
freiungskriege nicht erstorben war, daß die Zeiten der Erfüllung unserem
ringenden Volke endlich nahten. Mit dem nationalen Stolze wuchsen
auch die Freiheitshoffnungen. Nach so vielen Kämpfen und Enttäuschun-
gen begannen sich die Liberalen um diese Zeit das theoretische Ideal des
parlamentarischen Staates zu formen, das sie seitdem festhielten, bis mit
dem Jahre 1866 der monarchische Staatsgedanke wieder erstarkte. Einer
ihrer Führer, der Braunschweiger Karl Steinacker erklärte jetzt kurzab:
„die Regierung im Repräsentativstaate ist immer die Darstellung der
Majorität im Staate;“ der besonnene, wohlmeinende Mann ahnte nicht,
daß er mit dieser Lehre dem Königtum jede selbständige Macht raubte
und nur den Weg ebnete für die republikanischen Ideen, die unter den
Flüchtlingen, unter der aufgeregten Jugend gewaltig überhandnahmen.
Wie weitab von solchen beständig steigenden doktrinären Ansprüchen
des Liberalismus lag die Wirklichkeit der deutschen Zustände: die über-
aus bescheidene Macht der süddeutschen Landtage und die dreiste Willkür
des Welfenkönigs, der ungestraft sein Landesrecht mit Füßen trat. Auch