Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

412 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft. 
Cäsaren behandelte „das Verhältnis der Monarchie zu den Wirkungen der 
Aufklärung, Monarchie und Kultus im Bunde gegen die Glaubensfreiheit“ 
— und was der plumpen Andeutungen mehr war. Friedrich Wilhelm und 
Tiberius, Eichhorn und Sejan erschienen hier wie nahe Gesinnungsver- 
wandte; die auf beiden Füßen hinkenden Vergleichungen, die hämischen 
Sticheleien und Nutzanwendungen verzerrten das Bild der Vergangenheit 
gänzlich, aber die von Parteihaß zerwühlte Zeit bewunderte selbst ein so 
giftiges Buch. 
Für das starke Selbstgefühl dieser konstitutionellen Gelehrten war es 
ein harter Schlag, daß der größte deutsche Historiker ihren Bestrebungen 
fast ebenso kühl gegenüberstand wie einst Erasmus den Kämpfen Luthers. 
Ranke genoß der persönlichen Freundschaft König Friedrich Wilhelms und 
folgte der neuen Regierung mit hoffnungsvollem Vertrauen. Jeder Ten- 
denz, zu allermeist der liberalen, abhold, vollendete er jetzt mit staunens- 
werter Fruchtbarkeit die deutsche Geschichte im Zeitalter der Reforma- 
tion, das wissenschaftlich wertvollste unter allen seinen bisherigen Werken. 
Wunderbar, wie wenig die Deutschen von dem folgenreichsten Jahrhundert 
ihrer Vorzeit noch kannten. Die Schriftsteller der Aufklärung hatten die 
Zeit der Reformation wenig beachtet oder sie wohl gar, wie König Friedrich 
tat, ins Platt-Alltägliche hinabgezogen; Schiller, dessen genialer In- 
stinkt die einzige Größe jenes Zeitalters sofort durchschaute, konnte die 
Tage Luthers nur mit einigen beiläufigen geistvollen Bemerkungen streifen, 
weil es der Stoff seiner beiden Geschichtswerke so verlangte. Seitdem 
blieb die Geschichte unseres sechzehnten Jahrhunderts vornehmlich den theo- 
logischen Kirchenhistorikern überlassen, die sich denn nach ihrer Weise die 
weltumgestaltende Bewegung als einen Kampf dogmatischer Systeme zu- 
rechtlegten. Ranke zuerst wagte die politische Geschichte des Zeitraums 
zu schreiben, auf Grund der Reichstagsakten sowie zahlreicher anderer 
archivalischer Fünde, und er hob die entscheidenden Männer, die bestimmen- 
den Tatsachen aus der Flucht der Erscheinungen so sicher heraus, daß 
er mit gerechtem Selbstgefühle sagen durfte, „spätere Entdeckungen würden 
zwar wohl das einzelne näher bestimmen, aber die Grundwahrnehmungen 
doch zuletzt bestätigen müssen.“ 
Die Mehrzahl der Leser kannte nur die den Aufklärern wie den 
Jesuiten gleich geläufige Behauptung, daß die Gier nach dem Kirchengute 
die Politik der deutschen Fürsten wesentlich bestimmt haben sollte; eine 
neue Welt ging ihnen auf, als ihnen hier das feine Geäder der diplomati- 
schen Verhandlungen bloßgelegt und im einzelnen nachgewiesen wurde, wie 
die politischen und die kirchlichen Gegensätze einander fort und fort bald 
bedingt, bald durchkreuzt hatten. Noch stärker fast als die Fülle der neuen 
Mitteilungen überraschte das selbständige Urteil, das längst bekannten, 
unverstandenen Tatsachen sofort ihre historische Stellung sicherte; wer 
hatte vordem je bemerkt, daß die eigentliche Kirchenspaltung, die Bildung
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.