Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Moskowitischer Deutschenhaß. 463 
ihnen im sechzehnten Jahrhundert ihre eigenen Schüler, die skandinavischen 
Völker trotzig entgegengetreten, um sich selbst für mündig zu erklären und 
ein unabhängiges nationales Leben zu beginnen. Jetzt kam die Zeit, da 
auch die gesamte subgermanische Welt des Ostens, die ihre Gesittung fast 
ausschließlich den Deutschen verdankte, ihren germanischen Lehrmeistern 
zu entwachsen versuchte. Der erstarkende Nationalstolz der Magyaren 
und der Tschechen, der Russen und der Südslawen bekundete sich — das 
war der notwendige Lauf der Welt — in einem wütenden Deutschen— 
hasse. In Rußland nahmen auch schon die panslawistischen Ideen über— 
hand, phantastische Träume von einer Vereinigung aller slawischen Völker, 
die sich sämtlich dem weißen Zaren unterordnen sollten. Darum be— 
geisterte sich der russische Adel jetzt für ein Bündnis mit Frankreich, und 
dieser Gedanke, der schon unter Alexander I. mehrmals aufgetaucht war, 
fand nunmehr auch in Frankreich manche schwärmerische Anhänger. Man 
entsann sich wieder der Zeiten, da einst Pozzo di Borgo als russischer 
Gesandter und französischer Patriot dem Tuilerienhofe seine Ratschläge 
erteilt hatte. Lamartine, der in seinen überschwenglichen Reden doch zu- 
weilen ein Herzensgeheimnis seines Volkes prophetisch herausfühlte, 
nannte das französisch-russische Bündnis „den Schrei der Natur“, eine 
geographische Notwendigkeit. 
Die Nationen gleichen in ihrem Gemütsleben den einzelnen Menschen 
weit mehr, als die demokratische Volksschmeichelei zugeben will; die einen 
wie die anderen lassen sich oft auf lange hinaus durch fixe Ideen, durch 
unklare Wahnvorstellungen bezaubern. Rußland und Frankreich waren 
durch keinerlei Gemeinschaft der Interessen aufeinander angewiesen; nur 
ein einziges Mal, im siebenjährigen Kriege, hatten sie gemeinsam gegen 
Deutschland gefochten, und wahrhaftig nicht zu ihrem Ruhme. Was gleich- 
wohl den Gedanken eines französisch-russischen Bündnisses jetzt wieder be- 
lebte, war allein der Haß gegen das erstarkende Mitteleuropa; und da 
diese Empfindung im Westen wie im Osten die Gemüter wirklich be- 
herrschte, so konnte vielleicht dereinst noch eine Zeit kommen, wo der krank- 
hafte politische Plan sich verwirklichte. Bis zu diesem Außersten freilich 
wollte Nikolaus den Moskowitern nicht folgen. An dem Bunde der Ost- 
mächte hielt er noch immer ebenso fest wie seine vertrauten Ratgeber Nessel- 
rode und Orlow; den Haß gegen das Julikönigtum und die alte Vorliebe 
für das preußische Heer gab er auch niemals auf. Deshalb verhöhnten 
ihn die Panslawisten als einen deutschen Gottorper und benamsten ihn Karl 
Iwanowitsch — was ihnen nebenbei den Vorteil bot, auf ihren Zaren 
ebenso ungestraft zu schimpfen wie die radikale Jugend Preußens über 
ihren „Lehmann“ zu spotten pflegte. In der inneren Politik aber waltete 
unumschränkt das Moskowitertum mit seinem barbarischen Fremdenhasse. 
Mit den Jahren wurde die Unordnung an der Grenze doch den Russen 
selbst lästig. Cancrin zeigte sich, als er zur Zeit des Thronwechsels durch
	        
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