Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

516 V. 6. Wachstum und Siechtum der Volkswirtschaft. 
einmal mit Weitling zufällig zusammentraf und von dem Schneider wie ein 
biderber Kamerad angeredet wurde, da fühlte er sich tief gedemütigt „beim 
Handwerksgruße des ungläubigen Gnotentums“. In Wahrheit war der 
Gnote gläubiger als der Dichter, der mit allen seinen Überzeugungen 
nur geistreich spielte; aber Heines künstlerische Empfindung konnte den 
Verkehr mit der Hefe der Gesellschaft nicht ertragen, und bald zog er 
sich vorsichtig zurück. Auch Ruge erschrak, als er die letzten Ziele seiner 
Pariser Kumpanei endlich erkannte. Wie viele Standpunkte hatte der 
Hohepriester der Junghegelianer mit seiner behenden Dialektik nun schon 
überwunden; über den Standpunkt der selbständigen Persönlichkeit und 
ihres Eigentums kam er doch nicht hinaus, obgleich er selber arm blieb. 
Sein derber pommerscher Menschenverstand und das reizbare Ehrgefühl des 
alten Burschenschafters bewahrten ihn vor dem Alleräußersten, und so- 
bald er seine Leute durchschaut hatte, schrieb er mit gewohnter Kampf- 
lust gegen „die Verrücktheit der Theorie und den Schmutz der Gesinnung 
des Rabbi Moses Heß". Sogar Heinzen, das große Schimpftalent der 
Demagogen wollte den Kommunisten nicht mehr folgen, als sie den logi- 
schen Schluß aus seinen eigenen Lehren zogen. Der politische und der 
soziale Radikalismus begannen sich zu scheiden. 
Die kräftigste Hilfe kam den Kommunisten aus England. Dort hatten 
die schändlich bedrückten Arbeiter schon 1835 den mächtigen Chartisten- 
bund gebildet. Die große Volkscharte forderte zunächst nur politische 
Rechte: das allgemeine Stimmrecht mit allem, was dazu gehört. Doch 
jedermann wußte, daß die gerühmten sechs Punkte der Charte nur die 
Mittel bieten sollten, um das wirtschaftliche Leben gänzlich umzugestalten; 
und schon nach drei Jahren sprach der Methodistenprediger Stephens das 
entscheidende Wort: der Chartismus ist eine Messer= und Gabelfrage. In 
der Arbeiter-Marseillaise der Chartisten wurde König Dampf verflucht, 
„ein Tyrann, den der weiße Sklave kennt.“ Um die Macht und die 
Niedertracht der modernen Großindustrie an der Quelle kennen zu lernen, 
ging der junge Rheinländer Fr. Engels, neben Marx der beste Kopf der 
deutschen Kommunisten, nach London und schrieb sodann, im einzelnen 
parteiisch übertreibend, im wesentlichen wahrheitsgetreu, ein geistreiches, 
gründliches Buch über „die Lage der arbeitenden Klassen in England“ 
(1843). Die drastische Schilderung namenlosen Elends wirkte tief er- 
greisend; sie schloß mit der Weissagung einer nahen sozialen Revolu- 
tion, die in England allerdings drohte, jedoch durch den starken Selbst- 
erhaltungstrieb des altbefestigten Staatswesens noch glücklich abgewendet 
wurde. Späterhin traten Engels und Marx in den großen internatio- 
nalen Arbeiterbund, der einst durch den Deutschen Schapper in London 
gestiftet und mittlerweile stark angewachsen war.*) Marx war jetzt schon 
  
*) S. o. IV. 607.
	        
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