Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

726 V. 10. Vorboten der europäischen Revolution. 
dieses klassischen Landes föderativer Staatsbildung eine historische Not- 
wendigkeit: die Natur der Dinge drängte dahin, daß die Schweiz jede 
Verbindung mit dem Auslande auflöste und den alten Unterschied von 
Stadt und Land, von Herrenlanden und Untertanenlanden beseitigte. 
Dies zweifache Ziel war im Jahre 1815 nahezu erreicht: die Eidgenossen- 
schaft bestand nur noch aus zweiundzwanzig gleichberechtigten Kantonen. 
Nunmehr begann eine ebenso notwendige demokratische Bewegung; die tüch- 
tigen, um die alte Schweiz so hochverdienten Patriziergeschlechter vermochten 
nur noch in Basel, in Neuenburg und wenigen anderen Kantonen ihre 
geistige und wirtschaftliche Uberlegenheit zu behaupten, der Mittelstand 
drängte sich überall kräftig empor. Seit der Juli-Revolution ließ sich schon 
deutlich erkennen, daß die Schweiz der repräsentativen Demokratie zustrebte; 
der aristokratische Kleine Rat verlor fast allerorten an Ansehen, die Kanto- 
nalgewalt geriet mehr und mehr in die Hände der Volksvertretung, des 
demokratischen Großen Rates. Die aufstrebende Demokratie verlangte 
zugleich eine stärkere Bundesgewalt, wie sie schon einmal, unter der na- 
poleonischen Mediationsakte, zum Heile des Landes bestanden hatte. 
Aber diese im wesentlichen notwendige Veränderung des schweizeri- 
schen Lebens betrachteten die großen Mächte von vornherein ungerecht, mit 
legitimistischer Verblendung. Sie waren sämtlich, nicht mit Unrecht, 
erbittert über die unzuverlässige, bald harte, bald schlaffe Haltung, welche 
die Eidgenossen gegenüber den Flüchtlingen gezeigt hatten. Sie nahmen 
kurzweg an, daß der schweizerische Radikalismus, der in seinem Kerne 
ganz national war und alles ausländische Wesen fast unduldsam abwies, 
mit den Umsturzparteien des gesamten Weltteils zusammen arbeitete. 
Überdies standen die alten Herrengeschlechter der Schweiz, deren große 
Zeit jetzt zu Ende ging, allesamt mit den großen Höfen in persönlicher 
Verbindung. Die katholischen Konservativen unterhielten durch Haller, 
Hurter, Bernhard Meyer und andere fanatische Ultramontane vertrauten 
Verkehr mit Metternich; die Genfer Patrizier waren Guizots und Broglies 
alte Freunde, die Neuenburger Aristokraten das getreue Lehensvolk der 
Krone Preußen. Schon der Name der Radikalen, der in der Schweiz 
doch etwas ganz anderes bedeutete als in den benachbarten Monarchien, 
schreckte die Diplomaten ab; die fremden Gesandten verkehrten ausschließlich 
mit schweizerischen Konservativen, weil ihnen der Wirtshauston der radikalen 
Gesellschaft nicht zusagte, und erstatteten ihren Höfen stets parteiisch ge- 
färbte Berichte. Was die Höfe von Paris und Wien so gehässig gegen 
die Schweizer stimmte, war doch vornehmlich die Angst vor Deutschlands 
Erstarken. Metternich zitterte bei dem Gedanken, daß die deutschen 
Patrioten sich an den schweizerischen Radikalen ein Beispiel nehmen könnten; 
Guizot sprach mit Entsetzen von „dem Großstaats-Ehrgeiz“ der Schweizer, 
von der Möglichkeit einer furchtbaren helvetischen Einheitsrepublik, gleich 
als ob Frankreich vor der Schweiz zittern müßte; und König Friedrich
	        
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