Man lauscht — und man meint nicht, daß es eben nur Musik
ist. Vinetaglocken als Begleitung zur Flöte des demagogischen
Rattenfängers. Wie rührt er an die Herzen der Deutsch-
denkenden, wenn er sagt, wir dürften die Zeiten des grandiosen
deutschen Aufstiegs vor dem Umsturz nicht vergessen, wir
würden die Romantik des vergangenen deutschen Königtums
in Wort und Lied fortsetzen, wir dächten nicht daran, uns
unsere frühere Geschichte in den Schmutz ziehen zu lassen!
Dieser unpolitische Träumer, dem jeder harte Tatsachensinn
r sieht wieder einmal ein großes deutsches Mitteleuropa
vor sich und ruft, indem er auf der Rednerkanzel die Arme
weit ausbreitet, den Deutschen Österreichs über die Alpen
zu: „Kommt! Wir warten!“
Bravorufen, Händeklatschen, Jubelsturm; Ekstase bis zum
35. Rang, Rührung auf allen Bänken. Man ist bingerissen.
Wie nach der großen Arie in der Oper. In diesem Augenblick
komme ich mir fast wie ein verbrecherischer Störenfried vor,
weil ich nüchtern bleibe. Die Oeutschen Osterreichs sind uns,
deucht mir, durch den Ententesieg ferner gerückt als je, und
unsere schwächliche Regierung hat nur zentrifugale Wirkung
auf alle Randdeutschen. Der da oben in schönem Rausche
spricht, der ist nicht Führer, sondern Verführer, weil er den
Sumpf nicht sieht, wo ihm die demokratischen Frrlichter
leuchten. Wir brauchen keine Schwärmer. Wir haben eiserne
Männer mit scharfem Alge nötig.
Zmmerhin findet Naumann einige tapfere Worte wider
unsere brutalen auswärtigen Feinde. Auch wider die Re-
publik: in einer Republik bestehe stete die Gefahr, daß die
Regierung sich nicht — sauber halte. Aber gleich darauf
spricht er mit Herzenswärme zu den Sozialdemokraten, ja
er hat sogar für die Unabhängigen und ihre Theorien eine
Verbeugung; er ist und bleibt eben nur der große Werber,
der auf das Locken aus ist, ganz gleich, zu welchem Fähnlein
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