104 Zweites Buch: Staat und Staatsverfassung. IV. Kapitel. § 35.
zweideutig, daß durch die Reichsjustizgesetze die Gerichtsbarkeit der Gerichtshöfe, welche über
Ministeranklagen zu entscheiden haben, ebensowenig berührt worden ist, wie die Disciplinar=
gerichtsbarkeit. (Vgl. Pistorius a. a. O. S. 143 ff.) Freilich gilt dies nur soweit, als durch
diese Gerichtsbarkeit lediglich die disciplinäre Verantwortlichkeit der Minister ersetzt, bezw.
deren besondere staatsrechtliche Verantwortlichkeit geltend gemacht werden soll. Insoweit da-
gegen die Landesgesetze derartigen Gerichtshöfe auch die strafrechtliche Aburtheilung wegen ge-
wisser Verbrechen der Minister übertrug, erscheinen die betreffenden landesgesetzlichen Bestimm-
ungen beseitigt. Dies trifft aber bei Art. 61 V.U. zu, welcher die Anklage nicht bloß wegen
Verfassungsverletzung, sondern auch wegen Bestechung und Verrath zuläßt. Das zu erlassende
Gesetz könnte sich daher nur auf solche Verfassungsverletzungen beziehen, die nicht unter den
Thatbestand eines im Strafgesetzbuche vorgesehenen Verbrechens fallen, und könnte auch keine
Strafe androhen, deren Androhung durch Landesgesetze ausgeschlossen ist.
Da ferner durch § 12 Ausf.G. v. 24/4. 1878 z. G.V.G. das Obertribunal aufgehoben
ist, fehlt auch der durch Art. 61 für zuständig erklärte oberste Gerichtshof der Monarchie. Es
müßte daher um den Art. 61 zur Durchführung zu bringen auch durch Gesetz neuerdings ein
für die Ministeranklagen zuständiger Gerichtshof bezeichnet werden.
Im Zusammenhang mit Art. 61 V. U. steht die Bestimmung des Art. 49 Abs. 2 wor-
nach der König zu Gunsten eines wegen seiner Amtshandlungen verurtheilten Ministers von
seinem Rechte der Begnadigung und Strafmilderung nur auf Antrag derjenigen Kammer Ge-
brauch machen kann, von welcher die Anklage ausgegangen ist. Da hierbei eine Verurtheilung
auf Ministeranklagen, vorausgesetzt ist, ist natürlich das Begnadigungsrecht des Königs dann
nicht beschränkt, wenn ein Minister im gewöhnlichen Strafverfahren wegen einer in Ausübung
seines Amtes, bezw. aus Veranlassung seines Amtes begangenen Handlung verurtheilt worden ist.
Mit Rücksicht darauf, daß die im Art. 61 V. U. grundsältzlich festgestellte Ministerver-
antwortlichkeit insolange nicht praktisch geltend gemacht werden kann, als das in Art. 61 vor-
gesehene Gesetz nicht ergangen und das Obertribunal nicht durch einen anderen Gerichtshof
ersetzt ist, ist behauptet worden, daß die den Ministern nach Maßgabe der Art. 44 und 61 V. U.
obliegende Verantwortlichkeit lediglich eine politische oder moralische sei. Dies ist aber nicht
richtig, denn um eine politische oder moralische Verantwortlichkeit zu begründen erläßt man
keine Rechtsgesetze. Die Verantwortlichkeit der Minister ist eine rechtliche, aber da Art. 61
V. U. eine lex imperfecta ist, kann sie nicht verwirklicht werden. Dagegen besteht natürlich die
civilrechtliche und strafrechtliche Verantwortlichkeit der Minister, die durch Art. 61 V. U. nicht
berührt worden ist, in vollem Umfange für alle Handlungen derselben fort, welche sie in ihrem
Amte oder aus Anlaß desselben begehen und durch welche sie die Civil= oder Strafgesetze ver-
letzen. Sie können wegen solcher Handlungen im gewöhnlichen Civil= oder Strafverfahren ge-
richtlich belangt werden. Hervorzuheben ist dabei, daß im Falle der gerichtlichen Verfolgung
eines Ministers die Konfliktserhebung nicht zulässig ist (§ 43).
§ 35. Die Provinzial= und Bezirksbehörden 1). I. Während die Einrichtung der
Centralbehörden (Ministerium und Staatsrath) abgesehen von der veränderten Stellung, welche
die Minister durch die Verfassung, insbesondere durch Art. 44 V. U. erhielten, in ihren Grund-
lagen dieselbe geblieben ist, die sie durch die im Anfange dieses Jahrhunderts erlassenen Ver-
waltungsgesetze geworden war, ist die Einrichtung der Provinzial= und Bezirksbehörden, wie
auch der Kreis= und Lokalbehörden durch die neueste Verwaltungsreform fehr wesentlich umge-
staltet worden. Diese Umgestaltung trat ein im engsten Anschlusse an die Reform der Selbst-
verwaltung in Bezug auf die Kreis= und Provinzialverfassung und -Verwaltung. Den Aus-
1) Rönne, das Staatsrecht der preuß. Monarchie, 4. Aufl., II. S. 5 ff., S. 170 ff. —
Schulze, das preuß. Staatsrecht, 2. Aufl., II, S. 257 ff. — Bornhak, Preuß. Staatsrecht, II,
S. 302 ff. — Stengel, die Organisation der preuß. Verwaltung, S. 315 ff. — Brauchitsch, die
die neuen preuß. Verwaltungsgesetze, 10. Aufl., I, S. 25 ff.