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Drittes Buch.
Die allgemeinen Funktionen der Staatsgewalt.
I. Kapitel.
Gesetz und Verordnung.
§ 47. Das Gesetz und die Gesetzgebung 1). I. Die V.U. sagt in Art. 62: „Die
gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt.
Die Uebereinstimmung des Königs und beider Kammern ist zu jedem Gesetze erforderlich.“
In diesem Verfassungsartikel wird lediglich bestimmt, daß die Ausübung der Befugniß,
„Gesetze“ zu erlassen, dem Könige und beiden Kammern zusteht und daß das Zustandekommen
eines Gesetzes die Uebereinstimmung der drei sog. gesetzgebenden Faktoren voraussetzt, so daß
eine Majorisirung etwa eines Faktors durch die beiden andern ausgeschlossen ist. Dagegen ist
in Art. 62 V. U. über den Umfang der gesetzgebenden Gewalt, d. h. über die Gegenstände, die
durch Gesetz geregelt werden müssen, nichts gesagt; für den Begriff des Gesetzes im materiellen
Sinne ergiebt sich daher aus Art. 62 V. U. nichts.
Man kann nun nicht sagen, daß der Art. 62 V. U. von der stillschweigenden Voraus-
setzung ausgehe, daß jede Rechtsnorm, d. h. jede die Freiheit der Person und des Eigenthums
beschränkende Vorschrift als Gesetz im materiellen Sinne zu betrachten sei, und daher in der
Form des Gesetzes erlassen werden müsse, denn zur Zeit der Erlassung der V.U. fielen die
Begriffe Gesetz und Rechtsnorm keineswegs zusammen, vielmehr wurde nur ein Theil der
Rechtsvorschriften in der Form des Gesetzes erlassen, eine stillschweigende Aenderung des bei
Erlaß der Verfassungsurkunde gegebenen Gesetzesbegriffes durch Art. 62 V. U. ist aber um so
weniger anzunehmen, als die Verfassungsurkunde sich überall nur mit der Form des Zustande-
kommens der Gesetze beschäftigt und diese Form für eine Anzahl von Fällen vorschreibt, wo
von einem Gesetze im materiellen Sinne gar nicht die Rede sein kann.
Zur Zeit des Erlasses der Verfassungsurkunde hießen aber 1. nur die vom Landes-
herrn erlassenen Rechtsnormen Gesetz, dagegen nicht die zahlreichen Rechtssätze, welche von
den verschiedenen Behörden und Selbstverwaltungskörpern unter dem Namen von Verordnungen,
Regulativen, Vorschriften, Verfügungen u. s. w. ausgingen; 2. mußte die Anordnung des
Landesherrn in bestimmter Form, nämlich unter Zuziehung der Gesetzkommission, erlassen
und verkündet sein; 3. waren nach § 7 der Einl. z. A.L. R. nur diejenigen Anordnungen Ge-
setze, durch welche die besonderen Rechte und Pflichten der Bürger bestimmt oder die gemeinen
Rechte abgeändert, ergänzt oder erklärt werden sollen. Unter den „besonderen Rechten und
Pflichten der Bürger“ waren die im Anfange dieses Jahrhunderts in der Hauptsache beseitigten
1) Rönne, das Staatsrecht der preuß. Monarchie, 4. Aufl., I. Bd. S. 347. — H. Schulze,
das preuß. Staatsrecht, 2. Aufl., II. Bd., S. 3 ff. — Bornhak, Preuß. Staatsrecht, I, S. 475 ff.
— Arndt, das Verordnungsrecht 1884 und in Hirths Annalen 1886, S. 311. Ferner: „Ueber die
verfassungsrechtlichen Grundlagen des preuß. Unterrichtswesens“ im Archiv f. öff. Recht, I, S. 512 ff.
— Seligmann, der Begriff des Gesetzes 1886. — Jellinck, Gesetz und Verordnung 1887. —
Bornhak, Art. Gesetz in Stengel's Wörterbuch des Verw.-Rechts, J, S. 579.