174 Drittes Buch: Die allgemeinen Funktionen der Staatsgewalt. I. Kapitel. 8 49.
oder abändern 1). Ebenso ist der Erlaß von Nothverordnungen ausgeschlossen, wenn die Ver-
fassungsurkunde bezw. ein Verfassungsgesetz ausdrücklich vorschreibt, daß der betr. Gegenstand
nur „mit vorheriger Zustimmung der Kammern“ oder im Wege der ordentlichen Gesetzgebung
(Artt. 94, 95, 107) geregelt werden kann?).
Die Nothverordnungen ergehen unter Verantwortlichkeit des „gesammten Staatsmini-
steriums“, jedoch ist nicht vorgeschrieben, daß die Gegenzeichnung aller Minister zur Giltig-
keit erforderlich ist; andererseits sind aber auch diejenigen Minister, welche nicht gegengezeichnet
haben, von der Verantwortlichkeit nicht befreit.
Die Nothverordnung ist den Kammern bei ihrem nächsten Zusammentritte sofort zur
Genehmigung vorzulegen. Wird diese Genehmigung ertheilt, so bleibt die Nothverordnung in
Kraft und erhält die Eigenschaft eines Gesetzes, das erst nach erholter Zustimmung des Land-
tags erlassen wurde.
Wird die Genehmigung nicht ertheilt, so tritt zwar die Nothverordnung nicht von selbst
außer Kraft, da die Verordnung ihre verbindliche Kraft nicht aus der Bedingung der Genehmi-
gung, sondern aus dem Rechte des Königs solche Verordnungen zu erlassen herleitet, wohl aber
ist die Regierung verpflichtet, dieselbe unverzüglich außer Kraft zu setzen ). Die Genehmigung
oder Nichtgenehmigung der Nothverordnung hängt nicht vom freien Ermessen des Landtags ab;
findet er, daß die Verordnung zur Aufrechthaltung der öffentlichen Sicherheit oder zur Be-
seitigung eines ungewöhnlichen Nothstands dringend nothwendig war, so ist er verpflichtet, die
Genehmigung zu ertheilen"). Da über die Frage, ob die sachlichen Voraussetzungen des Er-
lasses einer Nothverordnung gegeben waren, selbstverständlich die Ansichten sehr auseinander
gehen können 5), so folgt daraus, daß die Genehmigung nicht ertheilt wurde, noch keineswegs,
daß eine die Verantwortlichkcit des Ministeriums begründende Verfassungsverletzung vorliegt.
Andererseits ist aber auch die Ansicht (Bornhak a. a. O. S. 510) durchaus haltlos, als ob das
Ministerium bei Erlaß von Nothverordnungen stets gesetzmäßig handele, da die Verfassungs-
Urkundc den Erlaß solcher Verordnungen gestatte. Allerdings gestattet die Verfassungsurkunde
den Erlaß von Nothverordnungen, macht denselben aber von gewissen materiellen wie formellen
Voraussetzungen abhängig; sind dieselben nicht gegeben, so liegt eine Gesetzwidrigkeit vor, die
je nach Lage des Falles sich als Verfassungsverletzung darstellen kann.
§ 49. Die Prüfung der Rechtsgültigkeit von Gesetzen und Verordnungen ).
I. Bekanntlich ist es eine sehr bestrittene Frage, ob die Gerichte, bezw. die Behörden überhaupt
das Recht haben die Rechtsgültigkeit von Gesetzen zu prüfen, also zu untersuchen ob das Ge-
setz formell gültig zu Stande gekommen und verkündigt worden ist und ob es nicht mit den
1) Der Verfassung zuwiderlaufen würde auch eine Verordnung, welche etwas bestimmen würde,
was nach der Verfassung überhaupt anzuordnen verboten ist, oder den in der Verfassungsurkunde ent-
haltenen Grundsätzen widerspräche.
2) Eine Nothverordnung ist nicht schon dann ausgeschlossen, wie Rönne a. a. O. S. 371 ff.
meint, wenn die Verfassungsurkunde ein „Gesetz“ verlangt, da dann überhaupt Nothverordnungen kaum
möglich wären, sondern nur dann, wenn die Zustimmung der Kammern, bezw. der Weg der ordent-
lichen Gesetzgebung ausdrücklich vorgeschrieben ist. Deshalb ist z. B. in den Fällen der Art. 99 und
103 (Haushaltsetat, Anleihen) die Zulässigkeit einer Nothverordnung gegeben.
3) Durch die Wiederaufhebung der Nothverordnung wird dieselbe nicht nach rückwärts annullirt,
sondern nur für die Zukunft beseitigt; deshalb bleiben die unter ihrer Herrschaft entstandenen Rechts-
verhältnisse in Kraft und sind nach ihren Vorschriften zu beurtheilen. Hat die Nothverordnung ein
Gesetz außer Kraft gesetzt, so tritt dieses Gesetz wieder von selbst in Kraft, sobald die Nothverordnung
beseitigt ist, da die Außerkraftsetzung des Gesetzes nur unter der Voraussetzung erfolgte, daß die Noth-
verordnnng in Kraft bleiben werde.
4) Selbstverständlicher Weise ist die Genehmigung schon dann versagt, wenn auch nur eine
Kammer die Ertheilung derselben ablehnt.
5) Ein Beispiel einer sehr weiten Auslegung der materiellen Voraussetzungen des Art. 63 bietet
die V. v. 24,8. 1882, betr. die Vertretung des Lauenburger Landeskommunalverbandes (val. darüber § 85).
6) Rönne a. a. O. S. 403 ff. — Schulze a. a. O. S. 39 ff. — Bornhak a. a. O. S. 517 ff.