8 75. Allgemeines. Ueberblick über die in der preuß. Monarchie geltenden Gemeindegesetze. 303
I. Kapitel.
Die Ortsgemeindent).
§ 75. Allgemeines. Ueberblick über die in der preußischen Monarchie geltenden Ge-
meindegesetze. I. Die Ortsgemeinder (politischen Gemeinden) sind die auf örtlicher Grund-
lage beruhenden untersten Kommunalverbände zur Befriedigung der aus dem örtlichen Ver-
bande sich ergebenden öffentlichen Bedürfnisse und zur Erfüllung der ihnen übertragenen staat-
lichen Aufgaben. Sie sind Korporationen, die sowohl auf dem Gebicte des Privatrechts, wie
des öffentlichen Rechts die Eigenschaft juristischer Personen haben.
Nach dem Gemeinderechte der meisten Gebietstheile zerfallen die Ortsgemeinden in
Stadtgemeinden und Landgemeinden, die sich durch ihre verschiedene Verfassung unter-
scheiden. In einigen Gebieten haben jedoch alle Gemeinden die gleiche Verfassung, wie z. B.
in Hohenzollern-Sigmaringen und in der Hauptsache auch im ehemaligen Kurfürstenthum
Hessen.
Hinsichtlich des Wirkungskreises der Gemeinden unterscheidet man in der Regel den
eigenen und den übertragenen Wirkungskreis. Maßgebend sind für diese Unterscheidung
die Bestimmungen der Gesetze, welche freilich im Allgemeinen der der Natur der Sache ent-
sprechenden Ausscheidung der Angelegenheiten der einen und anderen Art Rechnung tragen.
Der Natur der Sache nach gehören aber diejenigen Angelegenheiten zum eigenen Wirkungs-
kreise der Gemeinde, die sich aus dem örtlichen und nachbarlichen Verbande ergeben, wie die
Verwaltung des Gemeindevermögens, Maßregeln zur Förderung der wirthschaftlichen Inter-
essen der Gemeindeangehörigen u. dgl.
Zum übertragenen Wirkungskreise gehören dagegen diejenigen Angelegenheiten, die der
Staat sich an und für sich vorbehalten hat, die jedoch allgemein oder im einzelnen Falle den
Gemeindebehörden und Gemeindeorganen überwiesen sind, so daß dieselben bei Besorgung
solcher Angelegenheiten im Namen und Auftrage des Staates handeln. Zum übertragenen
Wirkungskreise gehört nach preußischem Rechte insbesondere auch die Ortspolizei, die die
Gemeinden im besonderen Auftrage des Staates handhaben, sowie alle anderen örtlichen Ge-
schäfte der Kreis-, Bezirks-, Provinzial= und allgemeinen Landesverwaltung, soweit nicht andere
Behörden dazu bestimmt sind, die Führung der Personenstandsregister u. dgl.
Der Unterschied zwischen dem eigenen und übertragenen Wirkungskreise der Gemeinden
macht sich in doppelter Weise geltend: Einmal werden die den eigenen Wirkungskreis der Ge-
meinde bildenden Angelegenheiten, die sog. Kommunalangelegenheiten, grundsätzlich von
den Organen der Gemeinde als solche besorgt, und die Vertretung der Gemeinde ist befugt zu
bestimmen, in welcher Weise die Besorgung erfolgen soll; andererseits hat auch die Gemeinde
mit ihren Mitteln für die Deckung der erwachsenden Kosten aufzukommen. Was dagegen den
übertragenen Wirkungskreis anlangt, also die der Gemeinde, bezw. den Gemeindeorganen, über-
wiesenen Angelegenheiten der Staatsverwaltung (allgemeinen Landesverwaltung), so bestimmt
in der Regel das Gesetz oder auf Grund gesetzlicher Bestimmung die Regierung, welche Be-
hörden, bezw. welche Organe der Gemeinden und in welcher Weise sie die betreffenden Ange-
legenheiten zu besorgen haben. Die Behörden der Gemeinde handeln in solchen Fällen auch
1) Rönne, das Staatsrecht der preuß. Monarchie, 3. Aufl., II. Bd., 1. Abth., S. 521 ff. —
Rönne, das Staatsrecht u. s. w., 4. Aufl., III, S. 37 ff. — Bornhak, Preuß. Staatsrecht, II,
S. 113 ff., S. 179 ff. — Schulze, das preuß. Staatsrecht, 2. Aufl., S. 436 ff. — Jolly, Art.
Gemeinde, Gemeindebezirk, Gemeindedienste, Gemeinde-Mitgliedschaft, Gemeinde-
Organe, Gemeinde-Verwaltung, Gesammtgemeinde in Stengel's Wörterbuch des
deutschen Verwaltungsrechts, Bd. I. S. 495 ff. — Strutz, die Kommunalverbände in Preußen
(1888). — Steffenhagen, Handbuch der städtischen Verfassung und Verwaltung, 2 Bde., 1887. —
Grotefend, Lehrbuch des preuß. Verw.-Rechts, I, S. 504 ff.