404 Sechstes Buch: Die Landesverwaltung. I. Kapitel. 8 94
(§ 12). Das Verfahren ist mündlich und öffentlich; geheim auf Gerichtsbeschluß aus Gründen
des öffentlichen Wohles. Der Beschuldigte kann einen Vertheidiger haben und muß einen
ex ofticio erhalten, wenn auf dem Reate nach allgemeinem Strafrechte mehr als Gefängniß bis
zu 1 Jahr steht. Das Urtheil geht auf die gesetzliche Strafe oder auf Freisprechung oder bei
Unzuständigkeit auf Verweisung an den ordentlichen Richter. Rechtsmittel finden nicht statt;
doch unterliegen Todesurtheile der Bestätigung durch den Befehlshaber der Besatzung, in
Friedenszeiten durch den kommandirenden General. Die Strafe wird innerhalb 24 Stunden
nach Urtheilsverkündung, bezw. nach Bekanntmachung der Bestätigung des Todesurtheiles an
den Angeschuldigten vollzogen. Die Todesstrafe wird durch Erschießen vollstreckt; ist dies bei
Aufhebung des Belagerungszustandes noch nicht geschehen, so wird die Strafe durch das ordent-
liche Gericht in die gewöhnliche Strafe umgewandelt (§ 13). Mit Beendigung des Belager-
ungszustandes erlischt die Thätigkeit der Kriegsgerichte, und gehen alle Akten und anhängigen
Sachen an die ordentlichen Gerichte über, die, die Fälle des § 9 ausgenommen, nach den
ordentlichen Strafgesetzen entscheiden (68 14, 15).
III. Auch wenn der Belagerungszustand nicht verkündigt ist, hat nach dem G. v. 4/6.
1851816 das Staatsministeriumim Falle des Krieges oder Aufruhrs bei dringender Gefahr für
die öffentliche Sicherheit das Recht, zeit= und distriktsweise die Art. 5, 6, 27—30 und 36 V. U.
zu suspendiren. Diese Befugniß kann sich gegenwärtig nur noch auf die Art. 29, 30 und 36
beziehen, da die übrigen Artikel durch reichsgesetzliche Bestimmungen ersetzt sind, die das preuß.
Ministerium nicht außer Kraft setzen kann ). Ueber die vom Staatsministerium verfügte Maß-
regeln muß den Kammern sofort, bezw. bei ihrem nächsten Zusammentreten Rechenschaft gegeben
werden (8 17).
§ 94. Die Ordnungspolizei. I. Die Gesindepolizei 2). Das Gesindeverhältniß ist
zunächst ein privatrechtliches Vertragsverhältniß; dasselbe geht aber insofern über die bloß
privatrechtlichen Beziehungen hinaus, als der Dienstbote in den Hausstand der Herrschaft auf-
genommen und zur Treue und zur Anhänglichkeit an dieselbe und diese zur Sorge für das
leibliche und sittliche Wohl des Gesindes verpflichtet ist. Von diesem Gesichtspunkte aus hält
das in einzelnen Theilen Preußens geltende Recht daran fest, daß das Gesinde einer wenn auch
geringen Gewalt des Hausherren unterworfen ist, zu deren Unterstützung die Polizeibehörde
einzuschreiten hat und daß über das Gesindewesen eine polizeiliche Aufsicht geführt werden muß.
Zur Ermöglichung dieser Aufsicht sind in den meisten Provinzen Gesindedienstbücher vorge-
schrieben (vgl. z. B. V. v. 29/9. 1846, G. S. S. 467), welche zur Eintragung eines Zeugnisses
durch die Herrschaft bei Beendigung des Dienstes bestimmt sind und welche die Ortspolizei-
behörde auszufertigen und zu beglaubigen hat. Durch das G. v. 21/2. 1872 (G.S. S. 160)
ist unter Aufhebung aller Abgaben von den Gesindebüchern für den ganzen Umfang der Monarchie
eine gleichmäßige Form für alle Gesindedienstbücher vorgeschrieben. Im Uebrigen beruht das
Gesinderecht nach seiner privatrechtlichen wie öffentlichrechtlichen Seite auf einer Anzahl in den
verschiedenen Landestheilen geltenden Gesindeordnungen (vgl. eine Aufzählung derselben bei
Bornhak a. a. O. S. 208 f., Hue de Grais a. a. O. (S. 309 Note 23).
1) Außerdem kommt §5 30 Abs. 1 R.Preß-G. in Betracht, welcher bestimmt, daß die für Zeiten
der Kriegsgefahr, des Krieges, des erklärten Kriegs-(Belagerungs-)Zustandes oder innerer Unruhen
(Aufruhrs) in Bezug auf die Presse bestehenden besonderen gesetzlichen Bestimmungen bis auf Weiteres
in Kraft bleiben. Darnach erscheint das Staatsministerium befugt, die Vorschriften bezüglich der Preß-
freiheit zu suspendiren.
2) Bornhak, Preuß. Staatsrecht, III, S. 206 ff. — Hue de Grais, Handbuch der Ver-
fassung und Verwaltung, 8. Aufl., S. 309 ff. (§§ 257 ff.). — Die Selbstverwaltung, XIV (1886)
S. 105 f. — Jolly, Art. Gesindepolizei in Stengel's Wörterbuch des Verw.-Rechts, I. S. 583 ff.—
Rönne, das Staatsrecht der preuß. Monarchie, 4. Aufl., IV, S. 207 ff. — Birkenbihl, die Ge-
sindeordnungen für die Monarchie u. s. w., 3. Aufl., 1892. — Posseldt, das preuß. Gesinderecht im
Gebiete des allg. Landrechts, 3. Aufl., 1889.