410 Sechstes Buch: Die Landesverwaltung. II. Kapitel. 8 95.
R.G. v. 6/6. 1870 regelt jedoch jedoch keineswegs die Armenpflege in jeder Hinsicht, sondern
schreibt nur vor, daß die Unterstützungspflicht Ortsarmenverbänden und Landarmenverbänden
obliegt, bestimmt, wie der Unterstützungswohnsitz erworben und verloren wird und regelt das
Verfahren der Streitsachen der Armenverbände.
Die nähere Ausführung der im Reichsgesetze enthaltenen Grundsätze ist dem Landes-
rechte überlassen, welches namentlich auch bestimmt, in welcher Art und Weise und in welchem
Umfange die Unterstützung zu leisten ist.
Zum R. G. v. 6/6. 1870 ist ergangen das preußische Ausf.G. v. 8/3. 1871(G.S. S. 130)
und das lauenburg'sche Ausf.G. v. 24/6. 1871 (offizielles Wochenblatt 1871) mit den
Novellen (G.S. v. 9/3. 1879 (G. S. 134) und 11/7. 1891 (G.S. S. 300), sowie die In-
struktion v. 10/4. 1871 (M. Bl. f. d. i. V. 1871 S. 132).
II. Armenpflege und Armenpolizei 1). Wie auf anderen Gebieten, so äußert sich
auch auf dem Gebiete des Armenwesens die Thätigkeit des Staates entweder als polizeiliche
oder als pflegliche. Die Armenpolizei hat es zu thun mit der Abwehr der aus der Armuth für
die öffentliche Sicherheit und Ordnung entspringenden Gefahren und demgemäß auch mit der
Verhütung der Armuth, soweit dies durch Gebote und Verbote, bezw. Zwangsmaßregeln mög-
lich oder thunlich erscheint. Die Aufgabe der Armenpflege dagegen ist nicht bloß die Fürsorge
für die Hilfsbedürftigen, sondern auch die Ergreifung von Maßregeln zur Verhütung der Ver-
armung, soweit diese vorbeugende Thätigkeit nicht mit Zwang verbunden ist. Die Thätigkeit
der Armenpflege wird in § 97 zu besprechen sein, was aber die Armenpolizei anlangt, so
bildeten früher einen Hauptbestandtheil derselben die Beschränkungen der Niederlassungs= und
und Verehelichungsfreiheit. Gegenwärtig sind jedoch in der Reichsgesetzgebung die in dieser
Hinsicht früher bestandenen Beschränkungen beseitigt. Nach dem im ganzen Reichsgebiete mit
Ausnahme von Bayern und Elsaß-Lothringen geltenden R.G. v. 4/5. 1868 über die Aufheb-
ung der polizeilichen Ehebeschränkungen (B.G.Bl. S. 149) bedürfen nämlich Reichsangehörige
zur Eingehung einer Ehe und der damit verbundenen Gründung eines eigenen Hausstandes
weder des Besitzes der Angehörigkeit in einer Gemeinde noch der Genehmigung der Gemeinde
oder des Armenverbandes noch einer obrigkeitlichen Bewilligung. Auch ein Einspruchsrecht
gegen die beabsichtigte Verehelichung steht den Verwaltungsbehörden, Gemeinden oder Armen-
verbänden nicht zu. Nur die Vorschriften, welche die Ehe der Landesbeamten, der Militär-
personen und der Ausländer von einer Erlaubniß abhängig machen, sind in Kraft geblieben,
doch ist der Mangel dieser Erlaubniß ohne Einfluß auf die Rechtsgiltigkeit der geschlossenen
Ehe (R.G. v. 6/5. 1875 S 38).
Ebenso gilt gemäß § 1 Fr.G. (vgl. § 90) Niederlassungsfreiheit. Die Niederlassungs-
freiheit, bezw. Freizügigkeit kann jedoch abgesehen von sicherheitspolizeilichen Gründen (val.
§§ 90 und 93) auch aus armenpolizeilichen Gründen beschränkt worden. In gewissen
Fällen sind nämlich die Gemeinden und Armenverbände zu Ausweisungen befugt, um sich vor
übermäßigen Armenlasten zu schützen.
1. Zur Abweisung eines neu Anziehenden sind Gemeinden und Armenverbände be-
rechtigt, wenn sie nachweisen können, daß derselbe nicht hinreichende Kräfte besitzt, um sich und
seinen nicht arbeitsfähigen Angehörigen den nothdürftigen Lebensunterhalt zu verschaffen
(Fr.G. 8# 3).
2. Die Ausweisung eines bereits Aufgenommenen kann erfolgen, wenn derselbe that-
sächlich eine Unterstützung aus öffentlichen Mitteln erhalten hat, die Gemeinde oder der Armen-
verband nachweisen kann, daß die Unterstützung aus anderen Gründen als wegen vorüber-
1) Ueber die Maßregeln der sog. Theuerungspolizei, welche im Zusammenhang mit der
Armenpolizei steht, vgl. Rönne a. a. O., IV, S. 186 ff. — Die ebenfalls mit der Armenpflege in
Verbindung stehenden Sparkassen, Provinzialhilfskassen, Leihnanstalten u. s. w. werden in 8 115 be-
sprochen werden.