89. Preußen als konstitutioneller Staat bis 1866. 29
schob um durch ihre Verfassungskommission einen eigenen Entwurf ausarbeiten zu lassen, der
am 26. Juli als „Entwurf einer Verfassung für den preußischen Staat“ dem Plenum vorge-
legt wurde. In der Versammlung herrschte aber eine so doktrinäre und revolutionäre Richtung,
daß sich die Regierung, nachdem sich die Versammlung zu dem Steuerverweigerungsbeschlusse
vom 15/11. 1848 hatte hinreißen lassen und auch die Verlegung des Sitzes der Versammlung
nach Brandenburg den gewünschten Erfolg nicht hatte, veranlaßt sah, am 5/12. 1848 die Ver-
sammlung aufzulösen. Unter dem gleichen Datum wurde jedoch die oktroirte Verfassung vom
5/12. 1848 verkündigt, welche sich möglichst an die Vorarbeiten der Verfassungskommission der
Nationalversammlung anschloß, aber „sofort nach dem ersten Zusammentritte der Kammer
einer Revision unterworfen werden sollte.“ Die zu dieser Verfassung gehörigen Wahlgesetze
wurden am 6/12. 1848 erlassen.
Die nach der Verfassungsurkunde zu berufenden Kammern wurden am 26/2. 1849 zu
Berlin eröffnet und erkannten die oktroirte Verfassung vom 5/12. 1848 als „das nunmehr
zu Recht bestehende Staatsgrundgesetz“ an, am 27/4. 1849 wurde jedoch die zweite Kammer
aufgelöst und die erste vertagt. Hierauf wurde am 30/5. 1849 ein neues Wahlgesetz (G.-S.
S. 205) erlassen, welches das bis zum heutigen Tage in Preußen geltende Dreiklassensystem
einführte. Nachdem auf Grund dieses Gesetzes Neuwahlen zur zweiten Kammer stattgefunden
hatten, wurden am 9/8. 1849 die sog. Revisionskammern eröffnet, deren Aufgabe die Revision
der Verfassung vom 5/12. 1848 war. Nach längeren Berathungen und Verhandlungen gelang
es auch, eine Einigung zwischen Krone und Volksvertretung zu erzielen und es konnte am
31/1. 1850 die königliche Botschaft erfolgen, welche die in der Verfassungsurkunde vorbehaltene
Revision für beendigt, die Verfassung mit sämmtlichen von beiden Kammern übereinstimmend
beschlossenen Zusätzen und Abänderungen für vollzogen erklärte und deren Publikation anordnete.
Hierauf wurde die revidirte Verfassungsurkunde vom 31/1. 1850 in der Gesetzsammlung (S. 17)
als „Staatsgrundgesetz“ verkündigt und vom König, den Staatsministern und sämmtlichen
Kammermitgliedern beschworen. Damit war Preußen definitiv in die Reihe der konstitutionellen
Staaten eingetreten 7).
In die Regierungszeit Friedrich Wilhelm IV. fielen zwei kleine Gebietserweiterungen,
die hier erwähnt werden mögen. Durch Staatsvertrag mit den beiden regierenden Fürsten von
Hohenzollern vom 7/12. 1849, genehmigt durch Gesetz vom 12/3. 1850 (G.-S. S. 289),
wurde das Gebiet der beiden Fürstenthümer Hechingen und Sigmaringen (21 Quadratmeilen
und 63000 Einw.) dem preußischen Staate einverleibt. Ferner wurde durch Vertrag vom 20/7.
1853 und 1/12. 1853 mit dem Großherzog von Oldenburg ein kleines Gebiet an der Jade
zur Gründung eines Hafens und einer Marinestation an der Nordsee erworben. Dagegen ver-
zichtete der König durch Staatsvertrag vom 26/5. 1857 auf seine seit dem Jahre 1848 that-
sächlich nicht mehr ausgeübten Rechte auf das Fürstenthum Neuenburg, dessen Verbindung mit
der preußischen Krone dadurch für immer gelöst wurde.
§ 9. Preußen als konstitutioneller Staat bis 18662). Wie schon angedeutet,
war es für die Entwickelung der preußischen Verfassungsfrage sehr nachtheilig gewesen, daß
die Krone es abgelehnt hatte, den berechtigten Wünschen der berufenen Volksvertreter nach
1) Die Verf.Urk. f. d. preuß. Staat vom 31/1. 1850 enthält 118 Artikel und zerfällt in Titel.
Titel I (Art. 1 u. 2) handelt vom Staatsgebiete, Titel II (Art. 3—42) von den Rechten der Preußen,
Titel III (Art. 43—59) vom Könige, Titel IV (Art. 60—61) von den Ministern, Titel V (Art. 62—85)
von den Kammern, Titel VI (Art. 86—97) von der richterlichen Gewalt, Titel VII (Art. 98) von den
nicht zum Richterstande gehörigen Staatsbeamten, Titel VIII (Art. 99— 104) von den Finanzen,
Titel IX (Art. 105) von den Gemeinden, Kreis-, Bezirks= und Provinzialverbänden. Hierauf folgt
ein Abschnitt: „Allgemeine Bestimmungen“ (Art. 106—111), dem sich in den Art. 112—118 „Ueber-
gangsbestimmungen“ anschließen.
2) H. Schulze, Preuß. Staatsrecht, 2. Aufl. I. S. 110 ff. — Bornhak, Preuß. Staats-
recht, Bd. I. S. 48.