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der Orts-, Betriebs= 2c. Krankenkasse des Antragstellers zu hören. Nach Vornahme der wei-
teren ihr erforderlich scheinenden Erhebungen sendet die Behörde die Akten mit ihrer eigenen gut-
achtlichen Aeußerung an den Vorstand derjenigen Versicherungsanstalt, an welche nach der Quitt-
ungskarte zuletzt Beiträge gezahlt worden sind. Dieser Vorstand entscheidet durch schriftlichen,
mit Gründen versehenen Bescheid über die Feststellung der Rente. Gegen den Bescheid hat der
Antragsteller und sofern eine Rente festgesetzt worden ist, auch der Staatskommissar das Recht
der Berufung an das Schiedsgericht. Gegen die Berufungsurtheile der Schiedsgerichte findet
binnen vier Wochen bei dem Reichsversicherungsamte das Rechtsmittel der Revision statt, das
nur auf Rechtsverletzungen gestützt werden kann. Gegenüber rechtskräftigen Entscheidungen
ist nach Maßgabe der Bestimmungen der Civilprozeßordnung die Wiederaufnahme des Ver-
fahrens statthaft (§8 75 ff.).
Die festgestellten Renten werden durch das Rechnungsbureau des Reichsversicherungs-
amtes auf die Versicherungsanstalten vertheilt, an welche die Versicherten während der Dauer
des Versicherungsverhältnisses Beiträge bezahlt haben (§ 90).
Nach Festsetzung der Rente erhält der Berechtigte einen Berechtigungsausweis; gleich-
zeitig ergeht die Zahlungsanweisung an die Post, welche vorschußweise bezahlt und demnächst
mit dem Rechnungsbureau abrechnet (8§8 86, 91).
VI. Neben den Versicherungsanstalten können nach §§ 5 ff. vom Bundesrathe besondere
Kasseneinrichtungen als Träger der Alters= und Invalidenversicherung zugelassen werden, falls
dieselben ihren Mitgliedern eine der reichsgesetzlich vorgesehenen Leistungen gleichwerthige Für-
sorge sichern 1).
3. Abschnitt:
Die Gesundbeitsverwaltung.
8 104. Die Gesundheitspolizei und Gesundheitspflege ). I. Allgemeines. Auf-
gabe der Gesundheitsverwaltung ist es nicht, die einzelnen Individuen vor der Schädigung
ihrer Gesundheit zu schützen und für die Wiederherstellung der gestörten Gesundheit des Ein-
zelnen zu sorgen, vielmehr muß sich der Staat darauf beschränken da einzugreifen, wo die
Kraft des Einzelnen nicht ausreicht, um die zum Schutze der Gesundheit und zur Beseitigung
einer vorhandenen Krankheit nothwendigen Bedingungen herzustellen. Demgemäß hat der
Staat zunächst dafür zu sorgen, daß solche Störungen und Gefährdungen abgehalten oder doch
verringert werden, deren sich der Einzelne nicht erwehren kann, wie z. B. die gesundheitsschäd-
lichen Einflüsse, welche sich aus dem Zusammenleben der Menschen, aus dem Betriebe gewisser
Gewerbe, der Uebertragbarkeit ansteckender Krankheiten u. s. w. ergeben. Dieser Theil der
Gesundheitsverwaltung wird Gesundheitspolizei oder Gesundheitspflege genannt,
je nachdem es sich um Gebote und Verbote, bezw. Maßregeln handelt, die gegebenen Falles
mittelst Zwanges durchgeführt werden, oder ob dies nicht der Fall ist. Den zweiten Theil
der Gesundheitsverwaltung bildet das öffentliche Heilwesen. Dasselbe bezweckt, den Er-
krankten die Möglichkeit zu verschaffen, sich solcher Personen, Anstalten und Mittel zu bedienen,
durch deren Hilfe eine Wiederherstellung der Gesundheit in Aussicht steht. Demgemäß trifft
der Staat Vorschriften in Bezug auf die Berufsbildung des Heilpersonales, die Herstellung
1) Zum R.G. v. 22/6. 1889 sind in Preußen zwei Ausführungsanweisungen ergangen: vom
20/2. 1890 und 17/3. 1890; dieselben sind abgedruckt in der Zeitschrift: die Invaliditäts= und Alters-
versicherung, I. Bd., S. 56 f., 66 f., 74 ff., 81 ff.
2) Stein, das Gesundheitswesen (2. Aufl. des III. Th. der Verwaltungslehre). — Stengel,
Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts (1886), S. 305 ff. — Rönne, das Staatsrecht der preuß.
Monarchie, 4. Aufl., IV. S. 216 ff. — H. Schulze, das preuß. Staatsrecht, 2. Aufl., II, S. 330 ff.
— VBornhak, Preuß. Staatsrecht, III, S. 191. — Grotefend, Preuß. Verw.-Recht, II, S. 112.
—Jolly, Art. Gesundheitspolizei in Stengel's Wörterbuch des Verw.-Rechts, I, S. 585.