Full text: Handbuch des Öffentlichen Rechts. Band II.3. Das Staatsrecht des Königreichs Preußen. (23)

30 Erstes Buch: Geschichtliche Einleitung. III. Kapitel. 89. 
weiterem Ausbau der in dem Patente vom 3/2. 1847 und den dazu gehörigen Verordnungen 
enthaltenen Verfassung entgegen zu kommen. Hätte sie es gethan, so wäre die Regierung in 
der Lage gewesen, dafür zu sorgen, daß die Verfassungsgesetzgebung in möglichstem Anschlusse 
an das geltende Staatsrecht und unter voller Wahrung der Rechte und der Stellung der 
Krone erfolgte. Nach der Entwickelung, welche die Dinge in den Jahren 1848/49 nahmen, 
konnte es aber gar nicht ausbleiben, daß die liberal-doktrinäre Richtung, welche hauptsächlich in 
dem auf dem mobilen Kapital beruhenden Bürgerthum vertreten war, zunächst wenigstens zur 
Herrschaft gelangte. Dieser doktrinäre Liberalismus ohne Verständniß für den unschätzbaren 
Werth einer historischen Entwickelung des Staatslebens glaubte das Heilmittel in der Nach- 
ahmung gewisser konstitutioneller Einrichtungen, wie sie sich in England, vor allem aber in 
Frankreich und Belgien ausgebildet hatten, um so mehr finden zu können, als diese Einrich- 
tungen dem „dritten Stande“ und dem mobilen Kapitale für immer die Herrschaft im Staate 
zu verschaffen zu versprechen schienen. So kam es, daß die zur Vereinbarung der Verfassung 
mit der Regierung berufene Nationalversammlung kein Bedenken trug, bei ihren Arbeiten 
einfach die belgische Verfassung zum Muster zu nehmen, also eines neutralen Mittelstaates, 
der nach seinen politischen, sozialen und wirthschaftlichen Verhältnissen möglichst wenig Aehn- 
lichkeit mit dem Großstaate Preußen hat, der aber namentlich insofern den größten Gegen- 
satz zu Preußen bildete, als in Preußen in Folge jahrhundertlanger Entwickelung ein 
machtvolles Königthum bestand, während das Königthum in dem neu geschaffenen Königreiche 
Belgien, die künstlich errichtete Institution der Monarchie neben der in der Verfassung zum 
Ausdrucke gelangten Idee der Volkssouveränität der Sache nach doch nur die Bedeutung 
einer erblichen Präsidentschaft haben konnte. 
Daher kommt es, daß einzelne Bestimmungen der Verfassungs-Urkunde vom 31/1.1850 
wie z. B. Art. 62 Abs. 1 über gemeinschaftliche Ausübung der gesetzgebenden Gewalt durch 
den König und die Kammern auf dem monarchischen Staatsrechte Preußens durchaus fremden 
Vorstellungen beruhen und daher gar nicht wörtlich genommen werden dürfen, wenn nicht in 
die Verfassung ein mit derselben im Widerspruch stehendes Element hineingetragen werden 
soll. Da sich ferner das geltende Staatsrecht des absoluten Staates nicht völlig ignoriren 
ließ, so tritt dasselbe in manchen Vorschriften neben der liberal-konstitutionellen Schablone 
zu Tage und die Verfassungs-Urkunde trägt im Ganzen und Großen einen eigenthümlichen 
Doppelcharakter. 
Der schlimmste Mangel der Verfassungs-Urkunde aber war, daß dieselbe zwar in einer 
Anzahl von Artikeln bedeutsame Grundrechte gewährte, aber zu wenig dafür sorgte, daß diese 
Grundrechte in bestimmter und klarer Weise abgegrenzt und gegen unbefugte Eingriffe sicher 
gestellt wurden. Es entsprach dies durchaus der liberalen Richtung der damaligen Zeit, welche 
die bürgerliche und politische Freiheit für gesichert hielt, wenn in den Verfassungs-Urkunden 
die Grundrechte eingeräumt waren und der Grundsatz der Ministerverantwortlichkeit ausge- 
sprochen war, während dieses Ziel doch nur durch eine genaue, die Rechte der Einzelnen und 
der Verwaltung bestimmt abgrenzende Spezialgesetzgebung und Gewährung weitgehenden 
Rechtsschutzes auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts zu erreichen ist. 
Die Gesetzgebung der Jahre 1848/50 bewegte sich durchaus in liberaler Richtung, 
was sich namentlich darin äußerte, daß man bestrebt war, alle Sonderrechte und Privilegien 
des großen Grundbesitzes thunlichst zu beseitigen (Aufhebung der gutsherrlichen Gerichtsbar- 
keit und Polizei, Aufhebung des Lehensverbandes, Abschaffung aller Vorrechte u. s. w.) und 
daß alle provinziellen und sozialen Unterschiede selbst auf Gebieten unbeachtet gelassen wurden, 
wo sie wie z. B. auf dem Gebiete des Gemeindewesens nicht wohl ignorirt werden konnten. 
Es konnte nicht ausbleiben, daß gegen diese Richtung, wenn auch deren Berechtigung in vielen 
Punkten nicht bestritten werden konnte, eine Reaktion erfolgte, die der konservativen Partei 
und dem hinter ihr stehenden Großgrundbesitz in Verbindung mit der Bureaukratie die Ober=
	        
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