8 10. Die Entwickelung des preußischen Staates seit dem Jahre 1866. 33
§ 10. Die Entwickelung des preußischen Staates seit dem Jahre 18661). Die
Siege des Jahres 1866 brachten Preußen zunächst eine sehr erhebliche Erweiterung und Ab-
rundung seines Gebiets. Auf Grund völliger Besiegung (debellatio) und daher ohne förm-
lichen Friedensschluß sind durch das Gesetz vom 20/9. 1866 (G. S. S. 555) mit dem preußi-
schen Staate vereinigt worden: 1. das Königreich Hannover (689 Quadratmeilen); 2. das
Kurfürstenthum Hessen (174 Quadratmeilen), 3. das Herzogthum Nassau (85 Quadratmeilen),
4. die Stadt Frankfurt (1,8ss Quadratmeilen). Durch den Friedensschluß vom 22/8. 1866
Art. XIV wurden ferner abgetreten von Bayern das Bezirksamt Gersfeld, der Landgerichts-
bezirk Orb und die Enklave Kaulsdorf; durch Friedensschluß vom 3/9. 1866 trat endlich das
Großherzogthum Hessen die Landgrafschaft Hessen-Homburg mit Meisenheim und mehrere
zur Provinz Oberhessen gehörige Gebietstheile ab. Diese von Bayern und Hessen-Darmstadt
gemachten Abtretungen wurden durch Gesetz v. 24/12. 1866 (G. S. S. 876) dem preußischen
Staate einverleibt. Was die Herzogthümer Schleswig-Holstein (317 Quadratmeilen) betrifft,
so hatte König Christian IX. von Dänemark im Wiener Frieden vom 30/10. 1864 auf seine
Rechte an diesen Ländern zu Gunsten des Kaisers von Oesterreich und des Königs von
Preußen verzichtet. Der Kaiser von Oesterreich hat sodann im Prager Frieden vom 23/8.
1866 (Art. V) alle seine im Wiener Frieden erworbenen Rechte auf diese Gebiete dem Könige
von Preußen übertragen, worauf die förmliche Einverleibung in Preußen durch das Gesetz
vom 24/12. 1866 (G.S. S. 875) erfolgte.
Sämmtliche im Jahre 1866 gemachten Erwerbungen sind integrirende Bestandtheile des
preußischen Staates geworden; hierdurch war auch das frühere Verfassungsrecht dieser Ge-
biete beseitigt, an seine Stelle ist das preußische Verfassungsrecht getreten, weshalb auch die
beiden Gesetze vom 20/9. 1866 und 24/12. 1866 bestimmten, daß die preußische Verfassungs-
Urkunde am 1. Oktober 1867 in diesen Gebietstheilen in Kraft treten sollte. Im Uebrigen
blieb vorerst das daselbst bestehende Privatrecht und öffentliche Recht in Geltung und mußte
erst allmählich mit dem preußischen Rechte in Einklang gebracht werden.
Das vom Könige von Preußen bereits durch den Gasteiner Vertrag vom 14/8. 1865
zugesprochene Herzogthum Lauenburg blieb dagegen zunächst noch durch Personalunion mit
Preußen verbunden, bis es durch Gesetz vom 23/6. 1876 (G.S. S. 169) dem preußischen
Staate einverleibt wurde.
Durch alle diese Erwerbungen einschließlich Lauenburg (19 Quadratmeilen) stieg der
Flächeninhalt des preußischen Staatsgebiets auf 6392,71 Quadratmeileno2). Der Krieg vom
J. 1866 hatte aber noch die weitere Folge, daß der deutsche Bund aufgelöst wurde und
Preußen die Möglichkeit erhielt, den norddeutschen Bund zu gründen. Am 16. April 1867
wurde die Verfassung des norddeutschen Bundes, wie sie aus den Berathungen des konstitui-
renden Reichstags hervorgegangen war, von den verbündeten Regierungen angenommen. Die
solchergestalt vereinbarte Bundesverfassung bedurfte aber, da sie tief in das Verfassungsrecht
der Einzelstaaten eingriff, auch noch der verfassungsmäßigen Zustimmung der Landtage sämmt-
licher Bundesstaaten 3). Nachdem die Zustimmung der beiden Häuser des Landtags erfolgt
war, erging das königl. Publikations-Patent vom 24/6. 1867 (G. S. S. 817), wodurch die
Bundesverfassung für Preußen verkündigt wurde mit der Bestimmung, daß sie im ganzen
Umfange der Monarchie am 1. Juli 1867 in Kraft trat. Dadurch ist zwar die norddeutsche
1) Schulze, Einleitung in das deutsche Staatsrecht § 123. — Derselbe, das preuß. Staats-
recht, 2. Aufl. I, S. 110 ff.
2) Zu diesem Gebiete ist noch hinzugetreten die Insel Helgoland, welche im deutsch-englischen
Vertrage vom 1/7. 1890 an das deutsche Reich abgetreten und auf Grund des Reichsgesetzes vom
15/12. 1890, bezw. des preuß. Gesetzes vom 28/2. 1891 (G.S. S. 11) mit der preuß. Monarchie ver-
einigt wurde.
3) Vglgl. Binding, die Gründung des norddeutschen Bundes, 1889.
Handbuch des Oeffentlichen Rechts 1I, Zweite Auflage: Preußen. 3