548. Sechstes Buch: Die Landesverwaltung. IV. Kapitel. 8 135.
gesetze, bezw. Bestimmungen von Reichsgesetzen zu erwähnen: 1. das R.G. v. 3/7. 1869, be-
treffend die Gleichberechtigung der Konfessionen (B.G. Bl. S. 292). Dieses lediglich die Stellung
der Einzelnen nicht der Religionsgesellschaften betreffende Gesetz hat alle noch bestehenden, aus
der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen
und staatsbürgerlichen Rechte aufgehoben und insbesondere bestimmt, daß die Befähigung zur
Theilnahme an der Gemeinde= und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Aemter
vom religiösen Bekenntnisse unabhängig ist. 2. Das R.G. v. 6/2. 1875 über die Beurkundung
des Personenstandes und die Eheschließung (R.G.Bl. S. 23), welches die Beurkundung der
Geburten, Heirathen und Sterbefälle ausschließlich den vom Staate bestellten Standesbeamten
übertrug, die obligatorische Civilehe einführte und in § 76 bestimmte, daß in streitigen Ehe-
und Verlöbnißsachen die bürgerlichen Gerichte ausschließlich zuständig sind, und eine geistliche
oder eine durch die Zugehörigkeit zu einem Glaubensbekenntniß bedingte Gerichtsbarkeit nicht
stattfindet — eine Bestimmung, welche in § 15 Abs. 3 R.G. V.GG. wiederholt wurde. 3. Das
R.G. v. 4/7. 1872, betreffend den Orden der Gesellschaft Jesu (R.G. Bl. S. 273), welches
den Orden der Gesellschaft Jesu und die ihm verwandten Orden und ordensähnlichen Kon-
gregationen vom Gebiete des deutschen Reiches ausschloß und die Errichtung von Niederlass-
ungen derselben untersagte. 4. R. Str. G. B. 130 a (sog. Kanzelparagraph) 7.
§ 135. Die Gewissensfreiheit?). I. Gewissensfreiheit (Glaubens= oder Bekennt-
nißfreiheit) ist das Recht des Einzelnen, seinen Glauben oder auch seinen Mangel an jedem
Glauben ohne Nachtheile zu bekennen, also die Ausschließung jedes unmittelbaren oder mittel-
baren Glaubenszwanges. Nur die Schranke besteht, daß der Inhalt des Bekenntnisses nicht
die bestehenden Strafgesetze verletzen und daß die Art der Ablegung des Bekenntnisses nicht
die öffentliche Ordnung schädigen darf. Verschieden von der Gewissensfreiheit, wenn auch in
inniger Beziehung zu ihr, ist die Religions= oder Kultusfreiheit, d. h. das Recht der-
jenigen, die die gleichen religiösen Anschauungen theilen, sich zu Vereinigungen zusammen zu
thun und in Gemeinschaft ihre Religion und ihren Kultus zu üben.
Wie schon bemerkt, hat das R.G. v. 3/7. 1869 in Anerkennung des Grundsatzes der
Gewissensfreiheit die Gleichberechtigung aller Unterthanen vor dem Staate ohne Rücksicht auf
ihr Bekenntniß durchgeführt. In noch weiterem Umfange war aber die Gewissensfreiheit be-
reits im A.L. R. II, 11 §§.1 ff. anerkannt. Jedem Einwohner des Staates ist daselbst voll-
kommene Glaubens= und Gewissensfreiheit eingeräumt und gleichzeitig ausgesprochen (§§ 5 u.
6 a. a. O.), daß der Staat von einem einzelnen Unterthan die Angabe, zu welcher Religions-
partei er sich bekennt, nur dann fordern kann, wenn die Kraft und Gültigkeit gewisser bürger-
licher Handlungen davon abhängt;z aber selbst in diesem Falle können mit dem Geständniß ab-
weichender Meinungen nur diejenigen nachtheiligen Folgen für den Gestehenden verbunden
werden, welche aus seiner dadurch vermöge der Gesetze begründeten Unfähigkeit zu gewissen
bürgerlichen Handlungen oder Rechten von selbst fließen. Als eine Folgerung des Grundsatzes
der Gewissensfreiheit ist in §7 das Recht eines „jeden Hausvaters“ zur Hausandacht anerkannt.
Eine weitere Folge des Grundsatzes der Gewissensfreiheit ist das Recht „der Wahl der
Religionspartei, zu welcher sich Jemand halten will“ (§ 40 a. a. O.). Der Uebergang von
einer Religionspartei zu einer anderen geschieht nach §§ 41, 42 in der Regel durch ausdrück-
liche Erklärung, der jedoch die Theilnahme an solchen Religionshandlungen, wodurch eine
Partei sich von der anderen wesentlich unterscheidet, grundsätzlich gleichsteht. Genauer geregelt
ist der Austritt aus den Kirchen und allen Religionsgesellschaften, denen Korporationsrechte
1) Das R.G. v. 4/5. 1874, betr. die Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchenämtern
ist durch R.G. v. 6/5. 1890 wieder beseitigt worden.
2) Hinschius, Art. Gewissensfreiheit in Stengel's Wörterbuch des Verw.-Rechts, l,
S. 603 ff. — Rönne a. a. O., II, S. 151 ff.