Full text: Handbuch des Öffentlichen Rechts. Band II.3. Das Staatsrecht des Königreichs Preußen. (23)

74 Zweites Buch: Staat und Staatsverfassung. III. Kapitel. § 25. 
Gewalt, an die Mitwirkung und Zustimmung eines, nicht einzelne Stände, sondern die Gesammt- 
heit des einheitlichen Volkes repräsentirenden Landtages gebunden. Deshalb sagt auch Art. 83 
V. U.: „die Mitglieder beider Kammern sind Vertreter des ganzen Volkes.“ Die preußische Volks- 
vertretung besteht aus zwei Kammern: dem Herrenhause und dem Hause der Abgeordneten (G. vom 
30/5.1855 G.S. S.316) die seit dem J. 1856 „die beiden Häuser des Landtags der Monarchie“ 
genannt werden. Jedes der beiden Häuser (Kammern) besteht als ein selbstständiges für sich be- 
rathendes und beschließendes Kollegium; beide zusammen bilden aber die einheitliche Volksver- 
tretung in der Weise, daß beide Häuser in allen zuihrem Wirkungskreise gehörigen Angelegenheiten 
vollständig übereinstimmen müssen, wenn ihre Beschlüsse als verfassungsmäßiger Ausdruck der 
Volksvertretung gelten sollen. Dieser Grundsatz liegt auch dem Art. 77 V. U. zu Grunde, wo- 
nach beide Kammern gleichzeitig berufen, eröffnet, vertagt und geschlossen werden müssen und das 
Herrenhaus vertagt werden muß, wenn das Abgeordnetenhaus aufgelöst wird. Von dem Grund- 
satze, daß jede Kammer für sich beräth und beschließt, kennt die Verfassungsurkunde nur zwei Aus- 
nahmen: 1. über die Frage der Nothwendigkeit einer Regentschaft, 2. über die Wahl eines 
Regenten beim Mangel eines volljährigen Agnaten (Art. 56 und 57 V. U.), wird in ver- 
einigter Sitzung beider Häuser mit absoluter Stimmenmehrheit beschlossen, so daß Durch- 
zählung der Stimmen der anwesenden Mitglieder beider Kammern erfolgt. 
Als Ausnahme von der Regel können selbstverständlich die Fälle nicht angesehen werden 
in denen die beiden Häuser zu bloß formellen Geschäften ohne Beschlußfassung zusammen- 
treten, wie bei der Eröffnung und Schließung des Landtags und bei der Ableistung des Ver- 
fassungseides seitens des Königs oder des Regenten. 
II. Ausnahmen von dem oben aufgestellten Grundsatze der Nothwendigkeit des Zu- 
sammenwirkens beider Kammern sind dagegen in folgenden Fällen gegeben: 1. Jede Kammer 
hat für sich das Recht, Adressen an den König zu richten und die an sie gerichteten Schriften 
an die Minister zu überweisen und von denselben Auskunft über eingehende Beschwerden 
verlangen (Art. 81 V. U.). 2. Eine jede Kammer hat die Befugniß behufs ihrer Information 
Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen (Art. 82). 3. Jede Kammer 
hat für sich das Recht der Ministeranklage (Art. 61). 4. Die Gesetzgebungs-Initiative steht 
jeder einzelnen Kammer zu (Art. 64 Abs. 1), ebenso das Recht der Stellung von Inter- 
pellationen und der Fassung von Resolutionen. 5. Die Wahl der Mitglieder der Staats- 
schuldenkommission erfolgt von jeder Kammer für sich (G. v. 24/2. 1850 §§ 10 und 11). 
6. Jede Kammer hat die Prüfung der Legitimation ihrer Mitglieder, die Regelung ihres Ge- 
schäftsgangs und ihrer Disziplin und die Wahl ihres Bureaus (Art. 78). 7. Ueber Einleitung 
einer Untersuchung oder Verhängung der Haft gegen die Mitglieder einer Kammer bezw. Sistir- 
ung eines Strafverfahrens oder Aufhebung einer Verhaftung in Bezug auf ein Mitglied ent- 
scheidet jede Kammer für sich (Art. 84). 
In den letzten beiden Fällen handelt es sich um die jeder einzelnen Kammer zustehende 
Autonomie. 
Da die beiden Häuser des Landtags sich vollkommen gleichstehen, liegt es im Ermessen 
der Staatsregierung, welcher Kammer sie ihre Vorlagen zuerst zugehen lassen will; nur hin- 
sichtlich der Finanzgesetz-Entwürfe und des Staatshaushalts-Etats schreibt Art. 62 Abs. 3 
V. U. vor, daß sie zuerst der zweiten Kammer vorgelegt werden müssen. Den Staatshaushalt 
kann das Herrenhaus auch nur im Ganzen annehmen oder ablehnen. 
§ 25. Das Herrenhaus 1). I. Nach Art. 62 und 63 V. U. v. 5/12. 1848 sollten die 
Mitglieder der ersten Kammer durch die Provinzial-, Bezirks= und Kreisvertretungen gewählt 
  
1) Rönne, das Staatsrecht der preuß. Monarchie, 4 Aufl., I. Bd., S. 205 ff. — Schulze, 
das preuß. Staatsrecht, 2. Aufl., 1. Bd., S. 576 ff. — Bornhak, Preuß. Staatsrecht, I. Bd. 
S. 364 ff.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.