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im allgemeinen niemand darum gering achten, wenn er sich darnach
streckt. Aber man muß einen Umstand ins Auge fassen, der solche
Bevormundung entschuldigt. Das Mittelalter war viel leichtlebiger,
als wir es uns am Ende des mit allerlei Sorgen und Rflichten
beschwerten 19. Jahrhunderts vorstellen können. In dem eng um-
friedeten Kreise des städtischen Lebens, auf das doch die erwähnten
polizeilichen Verordnungen im wesentlichen nur Bezug haben, hatte
ein jeder, der seine Hand zur Arbeit regte, sein gesichertes Auskommen,
und wenn er sich etwa eine allzu große Güte that und damit die
Grenzen des Erlaubten zu überschreiten schien, so war immer die Kirche
da und gern bereit, aus dem argen Sünder einen bußfertigen zu machen,
an dem die Engel im Himmel ihren Wohlgefallen haben konnten:
natürlich unter der Voraussetzung entsprechender Gegenleistung. Da
mußte denn ab und zu von der weltlichen Behörde zum Rechten
gesehen werden. Und noch eines: was hatte denn das Mittelalter,
wenn man absieht von den zünftischen Zusammenkünften auf den Trink-
stuben, an Unterhaltungen, wie sie in regelmäßiger Wiederkehr unser
Zeitalter in Zeitschriften, Theater= und anderen Vorstellungen, und
was alles dergleichen mehr ist, vielleicht zu reichlich aufweist? So
gut wie gar nichts, wenn man eben nicht Hochzeiten, Kindtaufen und
Begräbnisse, mitunter gerade diese letzten nicht zum wenigsten, zu all-
gemeineren Festen ausgestaltete, an denen keineswegs nur die Nächst-
beteiligten, sondern je nach Vermögenszustand des Festgebers so viel
als möglich teilnahmen. Man erschien bei solchen Gelegenheiten wohl
auch, nach italienischer und französischer Sitte, maskiert, wie auch sonst
mitunter in der Offentlichkeit; dagegen richtet sich schon die erwähnte
erfurter Ordnung von 1351, und zwar ausdrücklich unter dem Zusatze
„auch nicht in der Fasten Zeit“. Die zu Erfurt dafür angesetzte Strafe
beträgt allerdings bloß fünf Groschen, so daß diese Sache wahrscheinlich
nicht so oft und nicht als so dringlich zur Bestrafung kam, als der
uralte heidnische Brauch, jemand zu Ostern oder Pfingsten aus Schall-
heit ins Wasser zu werfen, was mit zehn Groschen Strafe verpönt
war. — Es mag dabei auf die immer noch unter der Herrschaft des
deutschen Rechtes geltende Anschauung von der Wertschätzung des
einzelnen Menschenlebens hingewiesen sein. Wenn jemand tot auf der
Landstraße gefunden wurde, ward er nach Aufhebung durch die Ge-