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nicht nur die ersteren, sondern auch die letzteren von der Geißler-
bewegung ernstlich zu fürchten gehabt haben.
Es erübrigt, darauf hinzuweisen, daß in der Geschichte der Juden-
schaft Deutschlands und Europas durch die Pest ein ganz gewaltiger
Abschnitt gebildet wurde, und es ist nur für den Augenblick frappierend,
daß die Juden in der roheren Zeit des früheren Mittelalters viel
glimpflicher behandelt worden sind als in der letzten Periode. So-
fern der Gegensatz nicht durch die Kirche selbst geschärft worden war,
die doch meist ihren pekuniären Vorteil vom Schutze der Juden gehabt
hatte, war er aus Glaubensursachen nur selten hervorgebrochen, wie
etwa zur Zeit der Kreuzzüge. Jetzt aber trat mit aller Macht der
wirtschaftliche Gegensatz ins Leben, gepaart mit wüstem Aberglauben,
und damit war es ein= für allemal aus mit der Sympathie der Be-
völkerung mit ihren jüdischen Mitbürgern, soweit solche überhaupt vor-
handen gewesen war. Wir sahen in unseren Gegenden fast überall
den Juden den Aufenthalt in den auf die Pest folgenden Jahr-
zehnten entweder ganz untersagt oder unter teils sehr erschwerenden,
teils sehr erniedrigenden Bedingungen beschränkt. Wo sie wieder Auf-
nahme, wenn auch nur eben bedingte, fanden, kann man diese gewisser-
maßen auf einen Kompromiß zwischen dem Volkswillen, der durch die
revolutionären Judenmorde sich für völlige Beseitigung des jüdischen
Elementes ausgesprochen hatte, und den regierenden Stadt= oder Land-
gewalten zurückführen, die es in ihrem Interesse fanden, von der teilweise
genehmigten Zulassung der Vertriebenen die üblichen Vorteile zu ziehen.
Wenn nun einerseits die Juden bei der Schlußbilanz der Pest-
rechnung entschieden den kürzeren zogen, so gewann anderseits die
Kirche aus dem allgemeinen Elend den größten Vorteil trotz der An-
fechtung durch die Geißler. Unübersehbar und unabschätzbar sind die
frommen Stiftungen und Legate derer, die sich noch im letzten Stünd-
lein eine günstige Vermittelung für das Jenseits erkaufen wollten,
oder derer, die vor ihren Augen ihre Erben, Kinder und Enkel, sterben
sahen und sowohl diesen als sich selbst im naiven Sinne der Zeit
alle Wohlthaten der Ewigkeit mit irdischem Gute meinten erwerben
zu können. War schon vorher der Besitzstand der Geistlichkeit von
vielen Seiten angefochten worden, so wurde der Grund zu Besorg-
nissen für die weltliche Gewalt durch die Pestvermächtnisse ganz erheblich