Full text: Illustrierte Geschichte der Sächsischen Lande und ihrer Herrscher. I. Band, 2. Abteilung. Von der Landesteilung von 1382 bis zum Übergange der Kurwürde an die Albertiner (1547). (2)

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ein Teil, ihnen ginge ein rotes Kreuz vor. Die Kinder entliefen mit 
Gewalt ihren Eltern, die Töchter ihren Müttern, daß die Mütter 
nachfolgten weinend und schreiend und konnten die Kinder nicht 
erhalten; und wenn man sie einsperrte, so wurden sie unsinnig, und 
wenn sie es ankam, so huben sie an zu weinen, wie groß, wie alt, 
wie klein sie waren, und begannen zu zittern, als die das Kalte haben, 
daß sie nicht sprechen konnten, und weinten also lange, bis daß sie 
aus den Häusern kamen auf den Weg, und entliefen den Leuten mit Gewalt. 
Und alsbald, als sie es ankam, alsbald liefen sie ihre Straße, barfuß, halb- 
nackt, in Hemden und Kitteln, barhaupt, ohne Geld, ohne Brot und ohne 
alle Vorsichtigkeit; und wenn das Essen auf dem Tische stund, daß man 
sollte essen, und sie noch nüchtern waren, dennoch so liefen sie hinweg 
ungegessen. Unter hundert behielt man kaum ein Mensch, das man 
überredete. Man führte sie zur Beichte, die Beichtväter konnten sie 
nicht überreden." Auch Erwachsene wurden angesteckt; ein Mann, der 
die Kinder vorüberziehen sah, ließ Wagen und Pferde stehen und 
gönnte sich nicht einmal die Zeit, ein paar neugekaufte Schuhe von 
seinem Wagen mitzunehmen. Und alle diese Verzückten hatten zum 
Ziele das heilige Blut zu Wilsnack, woraus man ersehen kann, welche 
Bedenken ernsten Männern angesichts dieses Wahnsinns aufsteigen 
mußten. Außer nach Wilsnack richtete sich die fromme Wandersucht 
auch nach Arnstadt, wo es ebenfalls ein blutendes Christusbild gab, 
oder zum wunderthätigen Marienbilde in Grimmenthal bei Meiningen. 
Die Opposition selbst von geistlicher Seite gegen das Wilsnacker 
Mirakel, ja seine Entlarvung als ein ganz gemeiner Schwindel nutzten 
nichts; man wallfahrtete nach wie vor hin. Und am Anfang des 
neuen Jahrhunderts, in den Jahren 1501 bis 1503, erfaßte die Leute 
in den Niederlanden und in Norddeutschland wieder eine neue Wunder- 
und Wandersucht, wobei die von ihr Ergriffenen an ihrem Leibe und 
an ihren Kleidern Kreuze zu sehen vermeinten. Es konnte nicht aus- 
bleiben, daß auf diesen krankhaften Erregungszustand eine Reaktion 
folgen mußte und auf den übersinnlichen Rausch eine recht sinnliche 
und vernunftgemäße Ernüchterung. — Mit diesem kirchlichen Wahn- 
glauben vertrug sich recht gut der altheidnische Aberglauben, der aller- 
dings meist ein kirchliches Mäntelchen umgehängt erhalten hatte. Nach 
wie vor glaubten die Thüringer an die alten heidnischen Gottheiten,
	        
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