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flüsse die Parteien in den Kammern wenigstens insofern, als
im April 1892 die Abgeordneten beider Kammern mit Ausnahme
der Königlichen Prinzen und des katholischen Bischofs, als über
den Parteien stehend, und natürlich der Sozialdemokraten, mit
103 Unterschriften von insgesamt 127 Abgeordneten die Erklärung
abgaben, daß im Interesse des öffentlichen Wohles ein Zusammen-
gehen der staatserhaltenden Parteien in allen Fragen des öffent-
lichen Lebens, namentlich bei den Wahlen notwendig sei. Dieses
Kartell hat zwar aus sich heraus, namentlich von konservativer
Seite, mancherlei Anfechtungen erfahren, ist wohl auch zeitweilig
in die Brüche gegangen. Aber namentlich die Reichstagswahl vom
25. Jan. 1907 hat es doch wieder in Sachsen deutlichst gezeigt,
daß der Reichsgedanke ein Gemeingut der früher so oft sich bis
aufs Messer bekämpfenden drei bürgerlichen Parteien geworden ist.
Allerdings wurde die Reichstreue der konservativen Partei,
die in Sachsen ja wesentlich aus agrarischen Elementen zusammen-
gesetzt ist, durch die sogen. Caprivische Kra auf eine harte Probe
gestellt. Die Handelsverträge des genannten Nachfolgers Bis-
marcks waren zweifellos einseitig für Handel und Industrie günstig
und vernachlässigten die Interessen der Landwirtschaft. Daher ent-
wickelte sich im Jan.-Febr. 1893 eine große agrarische Bewegung
gegen die Reichsregierung, die auch in den betreffenden Kreisen
Sachsens großen Anklang und Anhang fand. Diese Bewegung
hatte auch im folgenden Jahre noch Bestand, wenngleich sich das
Oberhaupt des Reiches in einer am 6. Sept. 1894 zu Königsberg
gehaltenen Rede mit scharfem Tadel gegen die agrarische Oppo-
sition wandte. Aber schon am 26. Okt. desselben Jahres hatte
Caprivi seine Entlassung, und sowohl die Politik des Fürsten
Hohenlohe als insbesondere von Bülows lenkte wieder in das
agrarische Fahrwasser hinüber. Bekanntlich wächst aber der Appe-
tit mit dem Essen. Die Landtagsverhandlungen im Dez. 1901
und April 1902 bewiesen das, indem die Konservativen an die
Regierung sehr energisch mit dem Ansinnen herantraten, bei den
Verhandlungen im Bundesrate über den neuen Zolltarif ihre stark
überspannten Forderungen zu vertreten. Gewiß waren die Aus-
führungen des Okonomierats Steiger in der zweiten Kammer am