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testantischen Lande gegenüber manchen Vorkommnissen der letzten
Jahre eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich zu haben schien, als
ob — und darauf nahm ja auch der Satz mit dem „geheimnis-
vollen Lug und Trug“ in des Königs Proklamation Bezug —
eine von langer Hand her eingefädelte jesuitische Intrige eine etwas
zu freigeistige Gattin von der Seite des zukünftigen Königs habe
entfernen wollen. Sogenannte Freigeistigkeit ohne Charakter und
selbständiges Denken bleibt immerdar wirkungslose Oberflächlich-
keit. Abgesehen aber davon lagen die Verhältnisse schon seit
einiger Zeit so, daß man nicht nötig gehabt hätte, sich einen
solchen windigen Chevalier Faublas aus Belgien zu verschreiben.
Um so merkwürdiger erschien die Haltung der Dresdener Be-
völkerung, wenn man nicht als entschuldigend anführen will, daß
eine gewisse, von Skandal lebende Presse in geschickter, vor allem
aber in unskrupulöser und verlogener Weise durch allerhand in
die Welt gesetzte Gerüchte die öffentliche Meinung zu vergiften
wußte. Das ersah trotz des offiziell festlichen Empfangs bei seiner
über Venedig, Wien und München genommenen Rückkehr am
3. Mai 1903 König Georg aus mancherlei Anzeichen, nicht minder
nachher in manchen recht üblen Straßendemonstrationen die Prin-
zessin Mathilde. Da können wir es wohl verstehen, wenn König
Georg sich in jener Leidenszeit gegenüber dem Oberbürgermeister
Tröndlin von Leipzig, wo man sich übrigens sehr bald eine ge-
sundere Anschauung der Dinge gebildet hatte, mit Tränen in den
Augen äußerte: „Man könnte an der Menschheit irre werden, wenn
selbst ganz ehrbare Frauen die Partei jener Frau ergreifen !“ —
Das waren in Sachsen die Auspizien, unter denen, sozusagen
um das Maß voll zu machen, am 30. April 1903 der Reichstag
von 1898 seine Legislaturperiode abschloß, sich auflöste und dem-
gemäß Neuwahlen erforderlich wurden. Deren Resultat am 16. und
26. Juni war für das ganze Deutsche Reich niederdrückend. Daß
das Zentrum in alter Stärke zurückkehrte, konnte niemand be-
sonders in Erstaunen versetzen. Aber welches Anwachsen der
Sozialdemokratie! Der Reichstag zählte 1890: 35, 1893: 44,
1898: 56, 1903 aber 82 Sozialdemokraten, und von diesen waren
nicht weniger als 22, also prozentual über 27 Proz. der gesamt-