— 797 —
wurden, ist schon die Rede gewesen. Richtig war es allerdings,
daß man in dem unnatürlichen Anwachsen der sozialistischen
Stimmen von vielen Seiten eine Antwort des sächsischen Volkes
auf die sogenannte „Wahlentrechtung“ von 1896 erkennen wollte,
und offenbar tat dies auch die Regierung. Aber abgesehen
davon, daß man dazu 1898 noch eher Gelegenheit gehabt hätte,
war jedenfalls eine andere und tiefer wirkende Ursache jenes
durchaus unbegründete Vorurteil breiter Schichten des sächsischen
Volkes gegen die Regierung des Königs Georg. Gewiß kam dazu
auch Verstimmung über den immer wachsenden Einfluß der Kon-
servativen, also im wesentlichen doch des agrarischen Elementes in
der zweiten Kammer, die, wie schon erwähnt, im November 1903
die liberalen Mitglieder sogar von sämtlichen Kommissionen aus-
schließen wollten. Auf eine Reform des Wahlrechts kam deshalb
im Anfang September auch der Verband sächsischer Industrieller
zu, der eine Neueinteilung der Wahlkreise unter Aufhebung des
Unterschiedes ländlicher und städtischer Wahlkreise unter besonderer
Berücksichtigung der Großstädte empfahl; denn die ländliche Bevölke-
rung zahle 9 752 000, die städtische dagegen 25 499 000 M. direkte
Staatssteuern. Die drei Großstädte des Landes hätten 1901 bei-
nahe die Hälfte der gesamten direkten Steuern aufgebracht. — Aber
auch dies blieb vorderhand schätzenswertes Material. Daß übrigens
die Stimmung wenigstens in gewissen Kreisen des Landes trotz
der großen Anhäufung schmutziger Wäsche auf dem allgemeinen
sozialdemokratischen Parteitag zu Dresden vom 13. bis 19. Sept.
1903 sich noch nicht geändert hatte, ergab am 21. Nov. die durch
den Rücktritt des früheren Pastors Göhre im 15. sächsischen Wahl-
kreise (Flöha) notwendig werdende Ersatzwahl. Göhre trat bekannt-
kanntlich infolge der Verunglimpfungen der akademisch gebildeten
Genossen auf dem Dresdener Parteitage zurück; an seine Stelle
wurde wieder ein Sozialdemokrat mit 16 039 Stimmen gegen den
Nationalliberalen gewählt, der nur 10509 Stimmen erhielt. Am
5. Jan. 1904 ferner wurde der Sozialist bei der Ersatzwahl im
22. sächsischen Wahlkreis mit 15272 Stimmen gewählt, obwohl
man in dem Grafen Hoensbroech (9749 Stimmen)g seitens der
Ordnungsparteien einen sehr namhaften Kandidaten aufgestellt