90 Ausdehnung radicaler Tendenzen.
haben, blieb der Zorn über die Ausnahmegesetze von 1832 im
Wachsen und verbreitete sich durch alle Classen der Bevölkerung.
Zwar die äußere Ordnung wurde an keiner Stelle mehr
gestört; die Zeitungen lagen in den Fesseln der Censur, und
das neue badische Preßgesetz mußte nach Bundesbefehl durch
den Großherzog zurückgenommen werden. In den Kammern
verlor die liberale Partei wieder die Majorität, und hielt sich
in behutsamer Defensive, um nicht neue Gewaltschritte des
Bundes hervorzurufen. Aber nur um so tiefer fraß sich der
Groll in die Herzen ein. Viele Tausende, die 1830 bei den
Aufläufen in Cassel und Dresden den Pöbelexcessen gewehrt
oder 1832 auf dem Hambacher Feste harmlos gejubelt hatten,
gelobten sich jetzt, wenn es wieder losginge, selbst mit kräf-
tigem Handeln dabei zu sein. Neun Zehntel der deutschen
Bürger erfüllten sich im Angesichte der Reaction mit demo-
kratischen Gedanken, die Gemäßigten mit Begeisterung für
den parlamentarischen Staat, wo ein Beschluß der Volks-
vertretung die Minister aus dem Amte entfernt oder in das-
selbe einsetzt, die Heißblütigen mit dem Ideale der Republik,
wo der Wille des gesammten Volkes über Gesetzgebung und
Executive in unbeschränkter Freiheit entscheidet. Noch hatte
keine Erfahrung darüber belehrt, wie nothwendig jedem großen
Gemeinwesen ein mächtiges Organ der Stetigkeit in seiner
Politik ist, ein Organ, für welches keine andere Staatsform
gleiche Aussicht wie die Erbmonarchie darbietet. Auch darüber
war man begreiflicher Weise damals noch nicht klar, daß die
parlamentarische Regierung in England nur deshalb einen
sichern und gedeihlichen Gang hatte behaupten können, weil
sowohl die Volksvertretung als die Verwaltung von zwei
fest organisirten und politisch geschulten Adelsgruppen geleitet