Full text: Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. Erster Band. (1)

1848 Gesinnung der Mehrheit. 171 
setzen. Nur daß sie das Vaterland auf allen Seiten durch 
innere und äußere Gefahren bedroht sahen, und bei der völligen 
Zerfahrenheit der Regierungen nur in dem moralischen An- 
sehen der Nationalversammlung die Möglichkeit, und damit 
die Pflicht der Errettung erblickten. So behielten sie einst- 
weilen die revolutionären Waffen noch in der Hand, hoffent- 
lich nicht zu blutigem Gebrauch, aber als wirksame Drohung 
gegen eigensinniges Sonderthum. Denn.schlechthin undenkbar 
schien es ihnen nach allen Erfahrungen des letzten Menschen- 
alters zu sein, ohne einen solchen Druck die Vereinbarung 
mit 39 Regierungen zu Stande zu bringen. In diesem 
Gefühle fanden sich, bis auf eine kleine Minderheit von etwa 
dreißig Stimmen, alle Mitglieder zusammen, so unbekannt 
sich unter einander die Meisten sonst waren, so groß die 
Unsicherheit und Unerfahrenheit in der Masse sich zeigte, so 
mannigfaltig und wechselnd die politische Richtung im Ein- 
zelnen hervortrat. Mehrere Wochen vergingen, ehe bestimmte 
Parteien sich bildeten, und dann dauerte es noch Monate 
lang, bis die einzelnen Gruppen feste Stellung zu den ent- 
scheidenden Fragen nahmen. So stand es in einer Ver- 
sammlung, welche von keiner frühern oder spätern in Deutsch- 
land an Geist und Talent, an Wissen und Beredtsamkeit, an 
idealem Streben und edlem Patriotismus übertroffen worden 
ist: es war die Bestätigung des alten Wortes, die Staats- 
kunst sei die höchste Leistung des menschlichen Geistes, zu 
der man nur durch angeborene Genialität oder durch lange 
Schulung in strenger Methode gelange. 
Ein wahrer Typus für die in der Mehrheit herrschende 
Gesinnung war ihr am 19. Mai erwählter Präsident, Heinrich 
von Gagern. Eine hohe, imposante Gestalt, ein kräftig
	        
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