— 175 —
kann dem tieferen Blieke nicht entgehen, daß sich die Doktrin
den Weg zur richtigen Feststellung des von ihr unter ihre For-
meln zu subsumierenden Tatbestandes durch Vernachlässigung
der geschichtlichen Entwicklung des durch diese bezeugten, durch
alle Widersprüche sich hindurchringenden Wesens der Monar-
chie verlegt hat. Und doch waltet die Empfindung der materiellen
und formellen Mängel der von der Doktrin mit entschlossener
Bestimmtheit bebaupteten Souveränität beider Staaten selbst bei
den leitenden magyarıschen Staatsmännern und bei magyarischen
Staatsrechtslehrern vor. Die berühmte Rede DEAKs für die Ver-
mittlung der Wünsche der Nation durch eine Adresse statt durch
einen Beschluß ergeht sich über die Notwendigkeit, mit der
Macht zu verhandeln, die de facto besteht, zumal auch die
europäische Diplomatie mit dem Kaiser von Oesterreich
Verträge abgeschlossen habe”! Der Aeußerüng DEAKs über die
Gefährlichkeit der Fortführung der Souveränitätstendenz bis zur
Personalunion wurde bereits gedacht. In seiner Rede vom
28. März 1867 kennzeichnet er die Schranken der Unabhängigkeit
des Landes gegenüber dem in Wien zwischen den Vertrauens-
männern der Nation und der Regierung des Kaisers verabredeten
Kompromißentwurf durch die Besorgnis, es werde dessen Ver-
werfung diese Unabhängigkeit einergrößeren Gefahr
aussetzen als die Annahme ?”%,
Was aber die formale Ausprägung der Souveränität Ungarns
anbelangt, die für die Theorie in voller Reinheit vorliegt, so
beklagt FERDINANDY, daß der historische Gegensatz zwischen der
Rechtsstellung, die Ungarn von Rechts wegen gebührt und
der Lage ist, bei welchem Punkte die Hoheit anfängt, Staatsgewalt zu
werden. — In einem gewissen Umfange haben auch die österreichischen Ge-
meinden Organisations-, Gebiets- und Personalhoheit; andererseits sind die
deutschen Gliedstaaten in jeder dieser Richtungen intensiv beschränkt. Bei
welchem Intensitätsgrad beginnt nun der Staat?
273° AEGIDI 8. 96 f. 274 ZOLGER a. 8.0. S. 274.
12*