Full text: Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. Zweiter Band. (2)

1861 Populäre Bewegung für deutsche Einheit. 401 
die Forderungen der Großdeutschen und Kleindeutschen, der 
Klerikalen und Liberalen, der Südländer und Nordländer. 
Deshalb wurde es bald stillschweigende Übereinkunft, bei den 
großen Tagen und Festen der heiklen Frage möglichst aus 
dem Wege zu gehen, und dafür durch farbenprächtige 
Schilderungen von des deutschen Reiches Herrlichkeit und der 
deutschen Einheit Glückseligkeit die Gefühle der versammelten 
Menge zu entflammen. Man ahnte nicht, wem man damit 
in die Hände arbeitete. Den so aufgeregten Stimmungen 
konnte kein auf die Wirklichkeit der Dinge gegründetes Pro- 
gramm, gleichviel ob groß= oder kleindeutsch, genügen; je 
heißer der Rausch, desto mehr erschwerte er jedes praktische 
Reformbestreben, und kam somit, wie sich bald genug zeigen 
sollte, nur dem Particularismus zu Gute. 
Das Ergebniß aller dieser Vorgänge war übrigens bei 
dem preußischen König der Eindruck, daß seine bisherige 
Zurückhaltung in ver großen Frage sich nicht lange mehr 
würde behaupten lassen, daß er genöthigt sein würde, eine 
bestimmte Stellung darin zu nehmen. Nun reiste er nach 
dem Landtagsschlusse wie gewöhnlich nach Baden, wo am 
14. Juli der Mordversuch eines halb verrückten Studenten 
keine andere Wirkung bei ihm hatte, als Befestigung seines 
ruhigen Gottvertrauens. Von dort ging der König in das 
Seebad nach Ostende, in Begleitung des Ministers von Schlei- 
nitz und des Gesandten aus London, Grafen Bernstorff. 
Eben dorthin kam dann auch der Großherzog von Baden, 
mit seinem neuen Minister, dem Freiherrn von Roggenbach, 
einem jüngeren Manne von reichem Geist, gewinnenden 
Formen, rührigem Thatendrang, der sich, der vorwiegenden 
Stimmung seines Landes entsprechend, offen zu dem Programm 
v. Sybel, Begründung des deutschen Reiches. II. 26
	        
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