Full text: Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I. Zweiter Band. (2)

1857 dilde Gesinnung des Zaren. Polnische Zustände. 473 
in folgender Art gestaltet. So lange der hörige Bauer an 
die Scholle gebunden war, hatte der Herr ihn zwar miß- 
handeln, aber nicht seines dürftigen Besitzes berauben können: 
jetzt, wo freie Kündigung auf beiden Seiten Rechtens war, 
fand es der Gutsherr in zahllosen Fällen nützlich, den 
Bauern auszutreiben, und dessen kleines Vorwerk entweder 
in eigene Bewirthschaftung zu nehmen oder es einem fremden 
und wohlhabenden Bebauer, sehr oft einem Deutschen, zu 
ergiebiger Verwerthung in Geldpacht zu geben. Dieses 
„Bauernlegen“ fand in solchem Maaße Statt, daß um die 
Mitte des Jahrhunderts beinahe die Hälfte der ländlichen 
Bevölkerung besitzlos geworden war, und mit Weib und 
Kind im Lande flottirend umherzog, um in jeder Art der 
Dienstbarkeit das tägliche Brod zu suchen. Bei der andern 
Hälfte wurde die freie Kündbarkeit von den Herren dazu 
benutzt, ihren Hintersassen neben dem Pachtgelde die Fortdauer 
einer langen Reihe von Naturaldiensten aufzuerlegen, ordent- 
liche und außerordentliche Frohnden auf dem Herrenacker, 
Lieferungen in die Küche des Herrenhauses, Wachtdienst, 
Hausdienst, Fuhren u. s. w.: ein amtliches Verzeichniß der 
im Königreiche vorkommenden bäuerlichen Leistungen ergab 
deren 121 Arten. Aber damit nicht genug. Zu diesen pecu- 
niären Rechten kam cine weite obrigkeitliche Gewalt. Ein 
Gutsherr, welcher zehn oder mehr Bauernhöfe besaß, war 
der geborene Amtmann jeder dieser Gruppen, oder konnte 
einen solchen auf freie Kündigung anstellen. Der Amtmann 
verwaltete die Polizei des Gutsbezirks, konnte kleine Geld- 
oder Prügelstrafen nach Belieben verhängen, übte zugleich 
die Gerichtsbarkeit im Bezirk, und war das einzige Organ 
der Centralverwaltung daselbst. Solcher Gutsbezirke, welche
	        
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