Object: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenter Jahrgang. 1891. (32)

166 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 10.) 
„Nun, dann hättet ihr ja mit dem bisherigen Vertrage noch eine 
Zeit lang weiter leben können, bis die Valuta geändert wäre“, — sagen 
die bimetallistischen Fanatiker. Auch das war nicht möglich. Wenn wir 
noch länger hätten mit dem Vertrage warten wollen, so würde, ich möchte 
sagen, von Monat zu Monat die Zahl der Staaten zugenommen haben, die 
in die andere Richtung verfallen wären, die sich mit chinesischen Mauern 
umgeben hätten: der Kampf würde immer erbitterter geworden sein; und 
wenn wir dann endlich fertig geworden wären, so würden wir niemand 
mehr gefunden haben, der geneigt gewesen wäre, mit uns einen Tarifvertrag 
abzuschließen. 
Ich habe dann in der Presse, vorherrschend in der agrarischen, die 
Frage gefunden: ja, die Regierung bindet sich nach oben, indem sie den Zoll 
für Weizen und Roggen auf 1,50 festsetzt (Zuruf recht`s) — um 1,50 ver- 
ringert, auf 3,50 festsetzt — sie soll sich auch nach unten binden! wir wollen 
wissen, daß in diesen 12 Jahren der Zoll nicht weiter ermäßigt werden 
wird! — Meine Herren, keine Regierung ist im stande, vorauszusagen, was 
sie in 12 Jahren thun wird. (Sehr richtig" im Zentrum und links.) Ich 
lehne das ab. (Bewegung rechts.) 
Ich bin aber der Meinung, daß auch die Agrarier keinen Grund 
haben zu glauben, daß es in der Absicht der verbündeten Regierungen läge, 
sie zu schädigen. (Bewegung rechts.) Als im Frühjahr dieses Jahres im 
preußischen Abgeordnetenhaus Verhandlungen über den sogenannten Notstand 
vorgenommen wurden, war eine so starke Strömung für eine zeitweise Herab- 
setzung der agrarischen Zölle da, daß, wenn die preußische Regierung nur 
einen Finger hingegeben hätte, ich glaube, es zu einem ziemlich einstimmigen 
Beschluß des Abgeordnetenhauses dahin gekommen sein würde, daß die Zölle 
auf Zeit herunterzusetzen wären. (Sehr richtig! links.) Dem hat die preu- 
ßische Regierung widerstanden und hat dem ganz allein widerstanden. Wir 
haben monatelang Hohn und Spott ertragen; wir sind in der Presse im 
Kathederton belehrt und im Straßenton verspottet worden, und es ist uns 
gleichgiltig geblieben. (Sehr richtig!) Wir haben festgehalten. Ich will 
den Agrarier sehen, der behaupten kann, daß er mehr für die Erhaltung 
der Zölle gethan hat als diese Regierung! Hätten wir damals nachgegeben, 
und wäre dann zum zweitenmale eine mäßige Ernte eingetreten, so wären 
die agrarischen Zölle auf Nieundnimmerwiedersehen verloren gegangen. (Sehr 
richtig! links.) Ich lehne also jede Provokation von dieser Seite entschieden 
ab. (Lebhaftes Bravo im Zentrum und links. Bewegung rechts.) 
Ich verkenne nicht, daß die deutsche Landwirtschaft sich in einer schwie- 
rigen Lage befindet. Es ist begreiflich, wie sie da hinein gekommen ist, und 
es liegt mir fern, einzelnen oder Generationen von Landwirten die Schuld 
beizumessen. Durch Verbesserung der Kommunikationsmittel, durch die Be- 
nutzung des Dampfes traten Staaten, Reiche, die bisher auf dem deutschen 
Markt mit Getreide nicht hatten erscheinen können, anbietend auf. Die 
deutsche Landwirtschaft verlor dadurch einen Schutz gegen fremde Konkurrenz, 
den sie bisher in ihrer geographischen Lage gefunden hatte. So lange es 
weder Eisenbahnen noch Dampfschiffe gab, kam ein mäßiges Quantum fremden 
Getreides vielleicht die Flüsse herunter oder auf Segelschiffen in die Häfen; 
das alles war, um so mehr, als die Getreideproduktion damals zur Bevöl- 
kerungszahl in einem viel günstigeren Verhältnis stand, nicht im stande, den 
inländischen Getreidebau zu gefährden. Erst als das entstand, was man 
jetzt den Weltmarkt nennt, wurde die deutsche Landwirtschaft gefährdet. Sie 
hat mit hohen Gestehungskosten zu rechnen: der deutsche bestellbare Boden 
trägt nicht mehr, ohne gedüngt, zum Teil auf kostspielige Weise gedüngt zu 
sein. Die deutschen Löhne stiegen allmählich; die Ausgaben, die in der letzten
	        
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