106 England und die deutsche Flotte
je weniger es selbst uns fürchtete. Darum wurde schon in den neunziger
Jahren in England der Gegensatz zu Frankreich und Rußland zurück-
geschraubt, der zu uns herausgearbeitet. 1914 dagegen hatte, durch
unseren Flottenbau, der die Gefahrenzone fast durchlaufen hatte, gedeckt,
Deutschland schon nahezu die Stelle der vierten Weltmacht friedlich
erobert, ohne daß England einzugreifen noch Gelegenheit gefunden hatte.
Es gehörten außerordentliche Ungeschicklichkeiten unserseits dazu, ihm
diese Gelegenheit so spät noch zu verschaffen. Ein hervorragender deut-
scher Staatsmann hat diese Leistung charakterisiert als ein diplomatisches
Kunststück erster Klasse, freilich nach der negativen Seite hin. Es gab
keinen andern Weg zur Weltmacht als über den Flottenbau. Um-
sonst wird einem Volk die höchste Wohlfahrt nicht geschenkt. Die
Seemacht war eine natürliche und notwendige Funktion für unsere
Wirtschaft, deren Welteinfluß mit England und Amerika um die
Palme stritt und die anderen Völker schon überholt hatte. Eine solche
Lage ist gefährlich, und sie wird unhaltbar, wenn nicht eine achtbare
Seemacht das Risiko des Konkurrenten, bei jedem Versuch, den auf-
strebenden Nebenbuhler totzuschlagen, stark erhöht.
Freilich wird man deutschen Doktrinären schwerlich Verständnis
dafür beibringen können, daß solche Entwicklungen wie die zur Übersee-
wirtschaft und Seemacht sich nicht kommandieren lassen, sondern orga-
nisch aus der immersten Volksentwicklung hervorgehen, und daß ein
Siebzigmillionenvolk auf enger Scholle ohne überragenden Ausfuhr-
handel buchstäblich verhungert.
In der Kieler Woche des Jahres 1914 sagte mir unser Londoner
Botschafter, Fürst Lichnowsky, mit dem jetzigen deutschen Flottenbau
hätte sich England abgefunden; ein Krieg um unsere Flotte oder unseres
Handels willen käme nicht mehr in Frage; das Verhältnis wäre be-
friedigend, die Annäherung im Wachsen. Er knüpfte hieran die Frage,
ob etwa eine neue Flottenvorlage zu erwarten wäre? Meine Antwort
lautete: „Wir haben keine mehr nötig.“
Binnen Kurzem, so hoffte ich, würde der Ausbau der Marine be-
endet und gleichzeitig der Weg des deutschen Volkes zu gesunder
nationaler, wirtschaftlicher und kultureller Betätigung in der Welt ge-
sichert sein.
Da kam der Krieg.