Full text: Tirpitz, Erinnerungen. Volksausgabe.

Der fünfte Juli 1914 111 
in gewissem Sinne symbolisch ist, hat es gefügt, daß unsrem Londoner 
Botschafter das bereits paraphierte deutsch-englische Kolonialabkommen 
gerade am Tag der Kriegserklärung zum Unterzeichnen überschickt wurde. 
Die Mißgunst der Ententemächte durfte in keinem Augenblick unter- 
schätzt werden. Aber die Situation war trotzdem für eine deutsche 
Staatskunst nicht verloren, als im Sommer 1914 die serbische Her- 
ausforderung an Österreich geschah. Es mußte nur rechtzeitig und 
offen gehandelt werden. Ein unmittelbares Ersuchen unseres Kaisers 
an den Zaren, bei der Sühne mitzuwirken, hätte Erfolg versprochen, 
mindestens aber unsere politische Lage günstig beeinflußt.  
Ein bedrohliches Moment lag, was Deutschland betraf, niemals im 
Kriegswillen, sondern einzig in der verhängnisvollen Mittelmäßig- 
keit im Amt befindlicher Politiker. 
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Am 5. Juli 1914 überreichte der österreichische Botschafter ein 
von Graf Hoyos, dem Kabinettschef des österreichisch -ungarischen 
Außenministers Grafen Berchtold, überbrachtes Handschreiben des Kai- 
sers Franz Joseph nebst einem schon vor dem Attentat verfaßten 
Promemoria in Potsdam dem deutschen Kaiser. Darin wurde, wie 
man mir nach Tarasp meldete, ausgeführt, daß die Fäden der Mord- 
verschwörung nach Belgrad reichten. Die österreichische Regierung werde 
mit der Forderung nach weitgehendster Genugtuung an Serbien heran- 
treten und, sobald diese nicht erfüllt würde, ihre Truppen in Ser- 
bien einmarschieren lassen. 
Kaiser Wilhelm sagte aus ritterlicher Empfindung dem persönlichen 
Ersuchen des österreichischen Kaisers Unterstützung und Treue gegen 
die serbischen Mordgesellen zu. Nach den Ausführungen, die er am 
Vormittag des 6. Juli meinem Amtsvertreter im Park des Potsdamer 
Neuen Palais machte, hielt der Kaiser ein Eingreifen Rußlands zur 
Deckung Serbiens für nicht wahrscheinlich, weil der Zar die Königs- 
mörder nicht unterstützen würde und Rußland zurzeit militärisch und 
finanziell kriegsunfähig wäre. Der Kaiser setzte ferner etwas sanguinisch 
voraus, Frankreich würde Rußland bremsen, wegen Frankreichs un- 
günstiger Finanzlage und seines Mangels an schwerer Artillerie. Von 
England sprach der Kaiser nicht; an Verwicklungen mit diesem Staat
	        
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