136 Der Ausbruch des Krieges
müßte, die immer einen aggressiven Beigeschmack hätte; die Armee
könnte doch auch ohne solche bis zur französischen Grenze marschieren.
Der Kanzler meinte, ohne Kriegserklärung an Frankreich könnte
er die Sommation an Belgien nicht überreichen. Mir ist dieser Grund
unverständlich geblieben.
Gerade die belgische Frage hätte von Anfang an unsere Diplomatie
zu besonders vorsichtigem Auftreten veranlassen sollen. Der General-
stab hatte seit Jahrzehnten die Möglichkeit des Durchmarsches durch
Belgien ernsthafter erwogen, seitdem nämlich sich die französische
Revanchepolitik auf die russischen Armeen zu stützen begann. Daß
bei einem deutsch-französischen Krieg die Franzosen mindestens intel-
lektuell die Angreifer waren, darüber konnte in der ganzen Welt ein
Zweifel nicht bestehen. In der Abwehr eines französischen Revanche-
krieges nun, der uns an der Weichsel ebenso wie an Maas und Mosel
bedrohte, konnte unser Durchmarsch durch das neutrale Belgien in
den Augen der Welt nur gerechtfertigt erscheinen, wenn die politische
Offensive Frankreichs gegen uns klar zutage lag.
Die Sonderbearbeiter der Frage im Generalstab, welche sich des
furchtbaren Ernstes der Lage Deutschlands naturgemäß in besonderem
Maße bewußt waren, hatten in den letzten Jahren vor dem Krieg aus
allerlei Anzeichen die Überzeugung gewonnen, daß die Franzosen und
Engländer durch Belgien marschieren würden, um die Rheinlande an-
zugreifen. Tatsächlich griffen die Franzosen im Jahr 1914 allerdings
in Lothringen an, so wie Schlieffen es immer vorausgesetzt hatte. Doch
verfügten wir über Belege dafür, daß die Westmächte Belgien als
Kriegsschauplatz in Aussicht nahmen. Auch für die politisch-militärische
Hinneigung maßgebender belgischer Kreise zur Entente gab es schon vor
der Eröffnung der belgischen Archive umfängliche Anzeichen. Da nun der
Kanzler über die belgische Frage unterrichtet sein mußte, so war es seine
Aufgabe, den vom Generalstab gegen einen russisch-französischen Angriff
für notwendig erachteten Durchmarsch durch Belgien diplomatisch ent-
sprechend vorzubereiten. Nichts ist in dieser Richtung geschehen. Die
strategische Offensive Deutschlands durch Belgien hatte politisch die
schwersten Bedenken; diese wurden nur gemildert, wenn unsere Politik
mit doppelter Vorsicht und Geschicklichkeit die Welt klar davon über-
zeugte, daß wir uns politisch in der Defensive befanden. Luden
wir aber den falschen Schein auf uns, politisch die Angreifer zu