Vom Kabinett 81
eine Freude zu bereiten und war unerschöpflich in liebenswürdigen Auf-
merksamkeiten.
Es war zur Übung geworden, daß ich alljährlich für die letzten
Septembertage zum Vortrag nach Rominten fuhr. Waldluft und ver-
hältnismäßige Ungestörtheit bekamen dem Kaiser gut. Er war dort
ruhiger und gesammelter, als es im großen Getriebe der Welt oder auf
Reisen für ihn möglich war. In Rominten fand ich beim Kaiser An-
hören und Erwägen aller Gründe, kein Ausbrechen in pläötzliche ner-
vöse Erregung, wie es sonst wohl vorkam und sich in einer gewissen
Unruhe der Augen ankündigte. Bei solchen Erscheinungen pflegte ich
alle wichtigen Entscheidungen stillschweigend unter den Tisch fallen
zu lassen. Mit eiligen Fragen war dies freilich nicht immer ausführbar.
Ich habe mir die Meinung gebildet, daß die Konstitution des Kaisers
dem Druck der Verantwortung nicht gleichmäßig gewachsen war. Jeden-
falls hat der Kaiser sowohl beim Ausbruch wie während des Krieges
mehrmals vor gesundheitlichen Zusammenbrüchen gestanden, die den
Arzten Sorge machten. Damit hängt es vielleicht auch zusammen, daß
er mit zunehmenden Jahren immer mehr geneigt wurde, den schwachen
Naturen in seiner Umgebung nachzugeben.
Man mußte den Kaiser unter vier Augen sprechen, da, wenn Dritte
anwesend waren, sein eigenes wirkliches Urteil leicht abgelenkt wurde
durch den von ihm stark gefühlten Drang, bei jeder eigenen Stellung-
nahme als Kaiser zu erscheinen. In diesem Umstand wurzelte die
Macht der Kabinette.
Der Kabinettschef wohnte den dienstlichen Vorträgen des verant-
wortlichen Ressortministers bei, und es war natürlich, daß nach dessen
Weggang der Monarch die Angelegenheiten mit ihm unter vier Augen
besprach. Die Kabinettschefs brauchten also nur den richtigen Augen-
blick abzupassen und sich auf Phantasie und Temperament des Herr-
schers einzustellen, um ihrer Ansicht Geltung zu verschaffen. Es wird
wenige Menschen geben, die in einer solchen Lage sich auf das ihnen
allein zustehende Gebiet zu beschränken vermögen. Caprivi hat, wie
er mir erzählte, nur einen Kabinettschef gekannt, der streng nach diesem
Grundsatz verfahren wäre, nämlich den General v. Albedyll. Freilich
hatte unser alter Kaiser ein starkes Empfinden für ressortmäßige Ge-
schäftsbehandlung. Das Übergreifen der Kabinettschefs in ihnen nicht
zustehende Gebiete zeitigte Vorschläge, die nicht so abgewogen sind wie
Tirpitz, Erinnerungen