Die Freiheit der kleinen Völker. Deutschland und Europa 80
geschickt durch uns vertreten zu sehen. Roosevelt hat mir gelegentlich
seines Berliner Besuches gesagt: „Sie müßten Holland nehmen.“
Das war natürlich ein schlechter Rat, dessen Gegenteil für uns richtig
war. Wir durften nicht erobern, sondern wir mußten gewinnen, indem wir
den Kleinstaaten mit eigenen starken Seeinteressen die Gewißheit brachten,
daß ihre Freiheit, die auch in unserem Interesse lag, zuverlässig gegen
die angelsächsische Allgewalt geschützt würde.
Es war ein Unglück für unser Volk, daß man ihm kein großes
Ziel zeigte, und doch lag es so klar vor uns. Als ich vor dem Krieg
Herrn von Bethmann gelegentlich sagte: Wir müßten der Nation Ziele
zeigen, fragte er mich erstaunt: „Was denn für ein Ziel?“ Ich meine,
es hätte darin bestehen müssen, alle freien Völker ohne jede Vor-
mundschaft der Angelsachsen zusammenzuführen. Große Worte
schadeten uns nur; aber eine zielbewußte vornehme Propaganda in
dieser Richtung hätte uns genützt. Dann wären die anderen Völker
Europas auch so klug gewesen, unsere Stärke mit günstigen Augen
zu betrachten. Der Flottenbau hatte der Nation im Innern sichtbar
gut getan; er hatte die Einigkeit der Parteien, den nationalen Sinn
und Stolz, die Sicherheit unseres Auftretens draußen gehoben und
befestigt. Er wäre auch allen fremden Völkern mit Ausnahme der
Engländer stets sehr erwünscht gewesen. Unsere Würde als Volk
und Staat aber verlangte nach einer außenpolitischen Ergänzung unseres
Flottenbaus. Erst die kräftige, aber friedliche Unterstützung der nicht-
angelsächsischen Völker in ihrer Freiheit gab unserem Machtzuwachs
die weltpolitische Berechtigung und Aussicht auf Dauer. In solchen
entscheidenden Entwicklungsjahren, wie wir sie durchliefen, darf ein
Volk sich keiner Verpflichtung entziehen, die aus seinem Wachstum
entsteht. Dies alles wird vermutlich in einigen Jahrzehnten im Be-
wußtsein der Menschheit immer stärker heraustreten.
Als der Krieg ausgebrochen war, vertrat ich weder im Osten noch
im Westen annexionistische Ziele. Auch ein Deutschmachen Belgiens
lag nicht in meinen Wünschen. Ich hielt es aber für notwendig, daß
die belgische Küste nicht unter britische Oberherrschaft fallen sollte,
weil dies die sichere Verkümmerung der deutschen Arbeit und des
deutschen Arbeiters nach sich zog. Ich wünschte deshalb die Er-
richtung eines selbständigen Flanderns, in welchem wir das Be-
satzungsrecht auf Zeebrügge hätten. Während des Krieges begriffen