die Eule der Minerva erst in der Dämmerung ihren Flug beginne,
gilt für Hellas, nicht für Deutschland. Unsere klassische Literatur
war nicht das Austlingen einer alten Gesittung, sondern der viel—
verheißende Anfang einer neuen Entwicklung. Hier faßte kein
Aristoteles die letzten Erlebnisse einer Kultur, die zu Grabe ging,
in einem großen Gedankensysteme zusammen, sondern ein junges, in
allen seinen Verirrungen lebensfrohes und zukunftesicheres Geschlecht
überraschte die Welt mit immer neuen Entdeckungen. Keinen Augen-
blick ist den geistigen Führern der Nation der Glaube an Deutsch-
lands große Bestimmung abhanden gekommen. Trotz ihrer elenden
Verfassung, sagte A. W. Schlegel, und trotz ihrer Niederlagen
bleiben die Deutschen doch die Rettung Europas. Im selben Sinne
schrieb Novalis: während andere Völker in Parteikämpfen oder in
der Jagd nach dem Gelde ihre Kraft vergeudeten, bilde sich der
Deutsche mit allem Fleiße zum Zeitgenossen einer höheren Epoche
der Kultur und werde im Laufe der Zeit ein großes Ubergewicht
über die anderen erlangen. Selbst der schwermütige Hölderlin,
dem die Ohnmacht der „tatenarmen und gedankenvollen“ Deutschen
am Herzen fraß, rief doch in freudiger Ahnung:
Oder kommt, wie der Blitz aus dem Gewölke kommt,
Aus Gedanken die Tat? Leben die Bücher bald?
Die Gesinnung der Knechte ist diesem Geschlechte von Dichtern
und Denkern immer fremd geblieben. Wohl sendete auch Deutsch-
land seine Pilger zu dem großen Fremdenzuge, der während des
Konsulats und der ersten Jahre des Kaiserreichs von allen Enden
Europas nach Paris strömte. Die ersten Kunstschätze der Erde
lagen dort aufgespeichert, wie einst im kaiserlichen Rom, und wieder
wie in den Tagen des Augustus versammelte sich ein weltbürger-
liches Publikum, das mit feinem Urteil aus dem Schönen das
Schönste herausfand; erst in der Weltgalerie des Loupre ist die
überwältigende Größe Raffaels erkannt worden. Den deutschen
Schöngeistern ward es in den heimischen Kleinstädten zu eng, sie
eilten nach der Seine und berauschten sich an den edlen wie an
18 H. v. Treitschke, Feldausgabe. 273