Full text: Auswahl für das Feld.

gräßliche Weib selbst dadurch kein tragischer Charakter; denn unter 
den widerstreitenden Gefühlen, welche ihr Herz bewegen, der reli- 
giösen Begeisterung für ihr Volk, der durch den Anblick kläglicher 
Schwächlinge geschärften Ruhmbegierde, endlich der geheimen Liebe 
zu dem einzigen ganzen Manne, denn sie kennt, tritt bald die nackte 
tierische Sinnlichkeit als das herrschende Motiv hervor. Noch häß- 
licher ist Holofernes, wohl der unwahrste aller jener souveränen 
Kraftmenschen, in deren Schilderung sich die Literatur jener Tage 
gefiel, bei aller scheinbaren Größe ein lächerlicher Prahler. Wahr- 
haft empfunden sind allein die glaubenseifrigen Gestalten des jü- 
dischen Volkes. Hier war es dem Sohne strenger bibelfester Bauern 
leicht, aus voller Seele zu schaffen. Aber wie fremd steht die 
Frömmigkeit des Alten Testaments neben einem Materialiomus, 
der an die häßlichsten Ausgeburten der poésie de sang ei de 
boue gemahnt! Diese Zerfahrenheit der Stimmung, diese Unsicher- 
heit der sittlichen Begriffe des Dichters raubt dem Stücke, trotz 
der in mächtigem Ausschwung tätig anschwellenden Handlung, die 
innere Einheit. 1 
Selbst jenes verwirrenden und berauschenden Reizes, den die 
Judith bei der ersten Aufführung immer bewäyren wird, entbehrt 
die Genoveva. Hebbel versteht noch nicht, den unbestimmtesten und 
darum bildsamsten der Verse zu gebrauchen: sein dramatischer Jam- 
bus ist korrekt und entspricht durch die Härte seiner mannlichen 
Endungen äußerlich dem Wesen des Dramas, aber er hat weder 
lebendige Krast noch melodischen Fluß. Mißachtend das durch die 
Natur des Stoffes Gebotene hat der Poet das wehmütig-liebliche 
Volksmärchen gewaltsam in eine Tragödie verwandelt, indem er 
den versöhnenden Schluß hinwegließ und jede Spur des Naiven 
und Naturwüchsigen vertilgte. Ja, er benutzte den mythischen Stoff, 
um an ihm die Unwahrheit unserer sittlichen Gesetze zu zeigen. 
Hier freilich sind „Satzungen und Rechte, die das Lebendige-Freie 
schamlos knechten“. Diese Menschheit ist befangen in formalistischer 
Sittlichkeit: nur ein Außerliches erblickt sie in der Ehre, der Treue, 
dem Glauben, zu deren Schutze sie die blutbefleckten Hände hebt. 
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