dies Trauerspiel mit vollem Rechte nie auf der Bühne Fuß fas—
sen, denn es ist ein antiquarisches Stück. Es ist ein sinniger,
freilich mehr für eine Novelle als für eine Tragödie der Ehe ge—
eigneter Gedanke, daß auch in der innigsten Vereinigung jeder
Gatte ein Etwas zurückbehält, das Schonung erheischt, das er dem
Gemahl nicht hingeben kann, ohne sich selbst aufzugeben; aber wie
wenige Leser werden aus der seltsamen Handlung des „Gyges“
diese Idee erraten! Heute, da man den Dramatiker unaufhörlich
auf historische Stoffe verweist, kann nicht laut genug die einfache
Wahrheit wiederholt werden, daß der Dichter seine Menschen in
den Herzen seiner Zuschauer, der Kinder seiner Zeit, entstehen und
wachsen lassen muß. Mag er getrost Weltverhältnisse aus den
Tagen vor der Sündflut uns vorführen: in den Empfindungen
seiner Charaktere dulden wir nichts Antiquarisches. Gerade unser
Publikum mit seinen abgestumpften Gefühlen wird nur durch ein—
fach-drastische, sofort verständliche Empfindungen erregt werden.
Dieser König Kandaules, welcher „Zeugen braucht, daß er nicht
ein eitler Tor ist, der sich selbst belügt, wenn er sich rühmt das
schönste Weib zu küssen“, welcher darum den Fremden als Zu—
schauer an das eheliche Lager führt — er handelt nach unsern
Begriffen mit einer brutalen Roheit, die seinen Edelmut uns völlig
unglaublich macht und jedes tragische Mitleid aufhebt. Hier aber
sind unsere Begriffe im Rechte, weil wir leben. Nur ein be—
dauerndes Achselzucken haben wir für die untadelhafte Kompo—
sition, die Melodie der Sprache und den Gedankenreichtum des
Dichters, der in diesem Werke sich glänzend entfaltet. Wie näm—
lich Kandaules in seinem Hause die Schranken altheiliger Sitte
zerstört, so wagt er auch im Staate „an den Schlaf der Welt zu
rühren“, obwohl er „nicht die Kraft hat, ihr Höheres zu bieten“.
Und in diese dumpfe gebundene Menschheit tritt der einzige, den
wir ganz verstehen, der jugendliche Gyges, der Mann der freien
entschlossenen Tat, der Sohn des klaren Hellenenvolkes, das die
Fesseln starrer Sitte lächelnd abgestreift hat.
Wie seine Dramen, so zeigen auch Hebbels kleine Gedichte eine
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