fast spurlos vorüber. Ist es doch längst kein Geheimnis mehr,
daß das Los der Gedichte heute in den Händen der jungen
Damen liegt. Wirken Tragödien zu aufregend auf die Gemüter
der Fräulein — nun, hier ist ein Epos aus der stillen Welt des
Hauses, ganz dazu geschaffen, ein einfaches Mädchen sanft zu be—
wegen. Doch leider, keine Spur von Sentimentalität und augen-
verdrehender Frömmigkeit; und diese Bäuerin hat so gesunde Ner-
ven, sie untersteht sich sogar, im Grünen zu gebären! Mon Dieu,
welche Pensionsdirektrite von Pflichtgefühl darf ihren Zöglingen
solche Natürlichkeiten bieteno
Unterdessen reifte langsam des Dichters größtes Werk, die Nibe-
lungen. Wenn der gebildete Durchschnittsmensch heute schon beim
Anblick des Titels einer Nibelungentragödie mit der Ruhe des
Weisen zu sagen liebt: das sind alte Geschichten, der Himmel be-
wahre uns vor dieser tausendjährigen Hexerei — so können wir
nicht bestimmt genug die Uberzeugung aussprechen: nur wenige
moderne Dichter haben die gewaltige Versuchung nicht empfunden,
die Gestalten des Nibelungenliedes irgendwie nachzubilden. Da
steht sie vor uns, eine jener grandiosen Fabeln, woran die Kunst
und der Glaube von Jahrhunderten gearbeitet, das Wunderwerk
eines ganzes Volkes, in ihren Grundzügen hoch erhaben über jene
Anfechtung der Kritik. Und mit dem vollen Reize der Jugend
tritt das altehrwürdige Werk vor unsere Augen. Seit zwei Men-
schenaltern erst hat sich die Liebe unseres Volkes wieder der alten
Dichtung zugewendet. Seitdem sind die Gestalten des hörnernen
Siegfried und der Rächerin Kriemhild einem jeden eng verwachsen
mit jenen ersten Empfindungen der Kindheit, welche ewig frisch
bleiben, als wären sie gestern empfunden. Und dieser Schatz ge-
waltigster menschlicher Leidenschaft, der unsere Maler zu immer neuen
Nachschöpfungen reizt, ist uns überliefert in einer poetischen Bear-
beitung, die dem feineren Kunstsinne der Gegenwart nimmermehr
völlig genügen kann. Denn — zum Schrecken orthodorer Germa-
nisten sei gesagt, was jedes einfache Gefühl sofort empfindet —
neben Stellen von hinreißender Kraft und Schönheit dehnen sich
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