Full text: Auswahl für das Feld.

welches dem kleinen Theologen und Juristen gänzlich fehlt. Immer- 
hin läßt Deutschlands neueste Geschichte klar erkennen, daß wir 
von dem geistigen Schaffen langsam zur politischen Arbeit über- 
gehen. Der Trieb des freien genossenschaftlichen Zusammenwir- 
kens, der in diesem Jahrhundert alle Völker ergreift, zeigte sich 
bei uns zuerst lebhaft auf dem Gebiete der Wissenschaft und Kunst: 
unsere Kunstvereine, Gelehrtenversammlungen, Liederfeste sind älter 
als die verwandten Erscheinungen bei fremden Völkern, während 
unsere politischen und wirtschaftlichen Vereine dem Beispiele der 
Nachbarn erst nachhinken. So steht denn auch mit Sicherheit zu 
erwarten, daß die freie und allseitige Bildung, der selbständige 
Wahrheitsmut der deutschen Gelehrten rückwirken wird auf die 
gesamte Nation. Neigung und Fähigkeit zur Selbstverwaltung 
sind bei uns in reichem Maße vorhanden. Städte wie Berlin 
und Leipzig stehen mit der Rührigkeit ihrer Verwaltung, mit dem 
Gemeinsinn ihrer Bürger den großen englischen Kommunen min- 
destens ebenbürtig gegenüber. Und wieviel Begabung und Lust 
zur echten persönlichen Freiheit in unserem vierten Stande wohnt, 
das offenbart sich klarer von Jahr zu Jahr in den Arbeiter- 
genossenschaften. 
Ein Volk, das, kaum auferstanden aus dem namenlosen Jam- 
mer der dreißig Jahre, die frohe Botschaft der Humanität, der 
echten Freiheit des Geistes, an alle Welt verkündet hat — ein 
solches Volk ist nicht dazu angetan, gleich jenen verdammten See- 
len der Fabel, in Ewigkeit in der Nacht zu wandeln, suchend 
nach seiner leiblichen Hülle, seinem Staate. Es ist unser Los — 
und wer darf sagen: ein trauriges Los? —, daß die innere Frei- 
heit bei uns nicht als die feinste Blüte der politischen Freiheit 
zutage tritt, sondern den festen Grund bildet, auf welchem ein 
freier nationaler Staat sich erheben wird. Und wessen leiden- 
schaftlicher Ungeduld der verschlungene Werdegang dieses Volkes 
gar zu langsam scheinen will, der soll sich erinnern, daß wir das 
jugendlichste der europäischen Völker sind, der soll sich des Glau- 
bens getrösten: kommen wird die Stunde, da mit größerem Rechte 
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